Besetzung der Berliner Volksbühne: Revolution mit Hausordnung
Sie wollen lange bleiben, schmeißen eine Party – und planen eine kollektive Intendanz: Szenen aus der besetzen Berliner Volksbühne.
Im Roten Salon wummern schon seit Stunden die Bässe der Technoparty, als eine Delegation der Volksbühnen-Besetzer noch immer mit Kultursenator Klaus Lederer und Intendant Chris Dercon zusammensitzt. Bis in die frühen Morgenstunden laufen die Verhandlungen. Es geht um die Forderungen der Aktivisten, Ersatzobjekte für die Besetzung und Kompromisslösungen. Erst gegen fünf Uhr morgens soll Lederer am Samstag das Haus verlassen, Dercon harrt gar bis sieben Uhr aus. Ergebnislos.
Am Samstagnachmittag gibt die Intendanz eine dünne Erklärung ab: „Die Leitung des Hauses ist grundsätzlich verantwortlich für die Sicherheit in der Volksbühne und haftet dafür. Sollte die Besetzung am Montag noch andauern, sind wir gezwungen, den Probenbetrieb an der Volksbühne einzustellen.“ Das träfe dann Susanne Kennedy und Tino Sehgal.
Daniel Bartsch, Sprecher der Berliner Kulturverwaltung, sagt: eine Räumung werde vorerst nicht in Erwägung gezogen. Auf Facebook teilt die Volksbühne mit, dass momentan nicht klar sei, ob der Probenbetrieb am Montag wieder aufgenommen werden könne.
Zur Stunde - das heißt: Samstag Abend - sitzen Intendant Chris Dercon, Klaus Lederer sowie der Geschäftsführer und der technische Direktor der Volksbühne wieder zusammen. Laut Besetzern werden Samstag Abend bis zu 6000 Personen erwartet. "Es geht darum, wie die Sicherheit noch gewährleistet werden kann, wer die Verantwortung trägt und was daraus folgt. Da werden alle Möglichkeiten durchgespielt", sagt Volksbühnen-Sprecher Johannes Ehmann.
Erst am Freitag hatte der Tagesspiegel noch über die Pläne einer möglichen Besetzung der Volksbühne berichtet. Am Freitag meldet das Kollektiv „Staub zu Glitzer“ über Twitter den Vollzug: „In einer gewaltigen transmedialen Theaterinszenierung haben Hunderte von Menschen das Gebäude der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz betreten und richten sich dort ein.“ Bis zu 3000 Personen sollen sich am Freitag Abend im Gebäude und auf dem Platz aufgehalten haben.
Über dem Eingang der Volksbühne hängt jetzt ein Transparent mit der Aufschrift „Doch Kunst“. Darunter steht ein junger Mann und hält ein Schild hoch: „Attacke!“ Doch ganz so martialisch ging es bei der Besetzung offensichtlich nicht zu. Die Aktivisten spazierten vielmehr zu einem offenen Seiteneingang hinein.
Einige Mitarbeiter sollen eingeweiht gewesen sein
Im Theater wird erzählt, dass einige Mitarbeiter der Volksbühne eingeweiht waren, zumindest hätten sie aber von der bevorstehenden Besetzung gewusst. Die Frau im Kassenhäuschen äußert sich gegenüber Journalisten wohlwollend. Es sei gut, dass endlich etwas gegen die Kommerzialisierung unternommen werde.
Vor dem Gebäude verteilen Wahlkämpfer der Satire-Partei „Die Partei“ Handzettel. Doch wie ernst die Sache den Beteiligten im Haus ist, zeigt sich bei der angekündigten Pressekonferenz im Foyer der Volksbühne. Bis auf einen Zugang sind alle Portale mit Fahrradschlössern von innen verriegelt. Der Beginn der Veranstaltung verzögert sich, da noch Gespräche mit der Polizei geführt werden. Die anwesenden Ordnungshüter sind erstaunlich zurückhaltend, lediglich zwei Beamte beobachten das Treiben am Rosa-Luxemburg-Platz.
Die Inszenierung beginnt. Eine Rakete aus Pappmaché wird hereingetragen. Es ist der Nachbau einer amerikanischen Atombombe des Modells B61-12. Ausgerechnet eine Kernwaffe ist der Namenspatron für das Besetzerkollektiv „B6112“. Dann tritt die Pressesprecherin Rosalia Rabe-Blum vor das Mikrofon. Sie berichtet, dass ein harter Kern von vierzig Personen seit Monaten an den Vorbereitungen zur Besetzung – die Aktivisten nennen es „transmediale Theaterinszenierung“ – gearbeitet habe. Zum erweiterten Kreis sollen gar weit über hundert Personen gehören.
Das Kollektiv verstehe sich selbst als feministisch, queer und antirassistisch. Mit der Aktion wolle man sich den „beängstigenden gesellschaftlichen Entwicklungen in einem Akt kollektiver Schönheit entgegenstellen.“ In der Volksbühne soll dazu der Raum für den Prototyp einer solidarischen Gesellschaft entstehen. Gewalt und Militanz lehne man zur Erreichung dieser Ziele ab, das denkmalgeschützte Gebäude soll unangetastet bleiben.
Die Besetzer planen eine kollektive Intendanz, die in den kommenden Tagen ein alternatives Programm für die Volksbühne vorstellt. Dazu werden die alten Mitarbeiter von Frank Castorf eingeladen. Dessen Weggefährten sollen ihre abgesetzten Stücke wieder zeigen können. Ziel sei die Rückkehr zu einem „engagierten, dialektischen Theater“.
Die Besetzung als „performative Intervention“ sei derweil nicht gegen die Person des neuen Volksbühnenintendanten Chris Dercon gerichtet, sondern gegen die Kultur- und Stadtentwicklungspolitik in Berlin. Die Volksbühne solle zum Zentrum gegen Gentrifizierung werden, in dem auch ein „Parlament der Wohnungslosen“ Einzug hält. Dercon möge derweil sein Programm auf dem Tempelhofer Feld fortsetzen. Für diesen Satz gibt es frenetischen Applaus.
Dass es bei der Aktion aber sehr wohl um den Castorf-Nachfolger geht, können die Anwesenden einem Begleittext entnehmen, der ausgeteilt wird. Darin unterstellen die Besetzer Dercon „eine konsumierbare, verständliche Unterhaltung, die auf den Erfolg getrimmt ist. (…) Die Krise soll abgeschafft werden, von einem Belgier, der die Harmonie liebt, und seinen Freunde aus aller Welt, die endlich darauf warten, berühmt zu werden.“ In einem Forderungskatalog der Besetzer wird dezidiert der Rücktritt Dercons gefordert.
Dieses Urteil über ihn wird offensichtlich ohne Anschauung der Produktionen gefällt, die unter dem neuen Intendanten geplant sind. Eine Erklärung, inwieweit Arbeiten von Künstlern wie Tim Etchells oder Mette Ingvartsen leicht „konsumierbare, verständliche Unterhaltung“ sind, bleiben sie schuldig.
Klaus Lederer zeigt am Freitagabend zwar Verständnis für den Kampf um städtische Freiräume, doch via Facebook kritisiert er die Besetzung scharf: „Was nicht geht und was auch nicht progressiv ist: Die Intendanz daran zu hindern, ihre Arbeit zu machen, und sie dem Lob oder der Kritik auszusetzen“, schrieb Lederer. „Kunstfreiheit ist immer auch die Kunstfreiheit der Andersperformenden!“ Nicht nur hier treten die Widersprüche der Aktivisten zutage. Die „kollektive Schönheit“, die im Freiraum Volksbühne entstehen soll, ist restriktiv reglementiert. In einem zehnseitigen Papier werden minutiös die Organisationsstrukturen und Pflichten der Besetzer dargelegt, von der Pressearbeit über Sicherheit und Logistik bis hin zur Verpflegung. Es soll ein internes Schiedsgericht installiert werden, das in Streitfällen urteilt.
Inzwischen kommen auch Prominente zum Rosa-Luxemburg-Platz
Dieses soll vor allem dann einschreiten, wenn die Hausregeln missachtet werden. Die Vorschriften werden überall im Gebäude ausgehängt. Neben Hinweisen auf den Denkmalschutz und das Rauchverbot taucht darin auffällig oft das Wort „müssen“ auf: Die Besetzer müssen an den Gemeinschaftsaufgaben teilnehmen, müssen Projekte initiieren und müssen an Versammlungen teilnehmen.
Im Laufe des ersten Abends strömen immer mehr Menschen zum Rosa-Luxemburg-Platz, darunter auch erste prominente Gesichter. Schauspieler Ben Becker solidarisiert sich vor laufenden Fernsehkameras mit den Besetzern. Auf einer Unterstützerliste im Internet werden neben Professoren und politischen Bündnissen auch der Autor Marc-Uwe Kling und Bands wie Tocotronic und Beatsteaks aufgeführt. Doch die Solidarität beschert den Aktivisten ein profanes Problem. Sie haben nicht genug Platz. Das Raumangebot in der Volksbühne ist beschränkt. Darum wird eine Obergrenze für die utopische Parallelgesellschaft formuliert: Mit 500 Menschen ist das Boot voll.
In der ersten Nacht soll es prompt zu langen Schlangen vor dem Eingang gekommen sein, wie Augenzeugen in sozialen Netzwerken berichteten. Und so könnte sich durch die Hand der Besetzer jene Prophezeiung erfüllen, die von Gegnern Dercons stets befürchtet wurde: Die Volksbühne wird zur Eventbude.