Franzobel-Roman "Das Floß der Medusa": Lecker Menschenfleisch
Der österreichische Autor Franzobel erzählt in „Das Floß der Medusa“ von einem Überlebenskampf auf hoher See und der Preisgabe moralischer Regeln.
„Das Floß der Medusa“ – so heißt ein berühmtes Bild des französischen Malers Theodore Géricault, das im Louvre hängt und nun auf den Umschlag eines gleichnamigen Romans des österreichischen Schriftstellers Franzobel gedruckt wurde. Das Gemälde erinnert an eine Schiffstragödie, die sich 1816 vor der Westafrikanischen Küste zugetragen hat.
Die Medusa, eine französische Fregatte mit rund 400 Menschen an Bord, war auf eine Sandbank gelaufen, steckte fest und drohte zu kentern. Die Rettungsversuche waren so dilettantisch organisiert wie die ganze Schiffsreise. Gerade mal für die Hälfte der Passagiere gab es Plätze in den Rettungsbooten, die keineswegs Frauen und Kindern vorbehalten waren. Es sollte sich vielmehr – wie wir aus Berichten von Überlebenden wissen – eine kleine Gruppe im Kampf aller gegen alle auf hoher See durchsetzen. Statt sich gegenseitig zu helfen, töteten sich die Menschen gegenseitig, verschlangen das Fleisch der Leichname oder warfen sie ins Meer. In höchster Not ist nicht, wie Alexander Kluge einmal formuliert hat, der Mittelweg der Tod, sondern die blanke Rücksichtslosigkeit und das Fehlen jeder Moral. Géricaults düsteres Gemälde zeigt die toten Schiffbrüchigen im wilden Meer, das Entsetzen der Überlebenden und ihre Hoffnung auf Rettung, die am Horizont aufscheint.
In Franzobels Roman wird die Schiffskatastrophe nun als wilde Orgie der Dummheit und des Unmenschlichen erzählt. Offenbar hat der trübe Stoff den richtigen Autor gefunden. Franzobel, der bürgerlich Franz Stefan Griebl heißt, ist ein fleißiger, vielseitiger und streitbarer Autor. Er schreibt derbe Satiren auf sein Heimatland, veröffentlicht wüste Trashkrimis, provoziert mit Theaterstücken, parodiert erotische Literatur, versteht sich bei allem schrägen und angriffslustigen Humor dennoch und vor allem als Humanist, und diese Haltung versteckt die Erzählstimme auch in diesem 600-Seiten-Roman keineswegs. Die Geschichte sei nichts „für frankophile, Rotwein trinkende, Käse degustierende Modefuzzis“, heißt es zu Beginn. „Gut, die Sache liegt mittlerweile mehr als zweihundert Jahre zurück. Wir können es uns also bequem machen und uns versichern, wir sind anders, bei uns kommt so was nicht vor. Doch ist das wirklich so?“
Warum wurde der Stoff eigentlich nicht von zeitgenössischen Autoren bearbeitet
Wenn man den Einstieg des Romans liest, befürchtet man zunächst einen allwissenden Erzähler, der belehrend auftritt und ständig Parallelen zum heutigen Flüchtlingsgeschehen zieht. Aber nach der kleinen, an Brecht erinnernden Ansprache an die Leserschaft wendet sich die Stimme dem eigentlichen Drama der Medusa zu und meldet sich nur noch sporadisch zu Wort. Der Text setzt ein, als der Kapitän eines anderen Schiffes, nämlich der Argus, ein etwa zwanzig Meter langes Floß mit fünfzehn ausgemergelten Gestalten im Meer entdeckt. Ursprünglich hatten sich rund 150 Menschen auf dieses Floß begeben, die in den Rettungsbooten nicht unterkamen. Die Überlebenden sind mehrfach traumatisiert, sie sind Opfer und Täter zugleich, sie haben überlebt, weil auch sie sich der Unmoral nicht entzogen haben.
Die Geschichte vom Floß der Medusa ist so ungeheuerlich, dass man sich fragt, warum der Stoff nicht von anderen zeitgenössischen Autoren bearbeitet wurde. Immerhin gab es vergangenes Jahr ein Jubiläum der Katastrophe, das Franzobel wiederum selbstbewusst verstreichen ließ. Wahrscheinlich liegt es am Monströsen der Geschichte, das in der arbeitsteiligen Literaturlandschaft dem Thriller vorbehalten ist und in einem seriösen belletristischen Werk eher nicht vermutet wird. Welcher – Käse degustierende – Feingeist will sich schon mit solchen Niederungen der menschlichen Natur beschäftigen? Franzobel hat nun das Unmögliche geschafft: Er ruft uns einerseits die Historie in Erinnerung, zum anderen hat er einen erstaunlich lebendigen und hochaktuellen Roman geschrieben. Dabei hilft ihm sein Gespür für das Groteske, seine Fähigkeit, die derben Seiten seiner Figuren herauszustellen, die gesellschaftlichen Widersprüche, ja, die Klassenverhältnisse in den Dialogen deutlich zu machen.
„Das Floß der Medusa“ ist mit Abstand Franzobels bester Roman
Der Erzähler kommt den Helden und Anti-Helden erstaunlich nah, übertreibt es aber nicht mit der Mimesis. Die aufgeklärte Distanz bleibt gewahrt. Franzobel bleibt dabei den Überlieferungen der Überlebenden treu, nimmt sich aber auch die Freiheit, Figuren zu erfinden, wie etwa den sympathischen Schiffsjungen, der am untersten Ende der Futterkette steht und auf schlimmste Weise drangsaliert wird. Dem unfähigen Kapitän Hugues Duroy de Chaumareys, der von Nationalstolz und Egomanie besessen ist, setzt der Autor ein Denkmal der Schande. Auf eine tränenselige Rahmenstory, die den Untergang der Medusa wie im Titanic-Film ins Hier und Jetzt zerrt, verzichtet Franzobel glücklicherweise. Gerade weil sich der Text auf die historische Tragödie konzentriert, verweist er unmissverständlich auf die aktuellen Flüchtlingsdramen, die sich an Europas Außengrenzen abspielen. Es entbehrt natürlich nicht einer gewissen Ironie, dass hier degenerierte Europäer und rücksichtslose Kolonialisten Schutz im wilden Afrika suchen.
„Das Floß der Medusa“ ist mit Abstand Franzobels bester Roman. Satt sich weiterhin an der Heimat abzuarbeiten, sich in Provokationen zu ergehen und mit dem satirischen Holzhammer zuzuschlagen, setzt er aufs Literarische, vertraut seinen Szenen und Dialogen. Franzobel schöpft aus der Fülle der Seefahrt-Fachtermini und Meeres-Metaphern, erzählt das Elend der menschlichen Existenz, beschreibt lustige und lächerliche Seiten im hierarchischen System auf hoher See und zeigt, was mit den Menschen passiert, wenn es keinen moralischen Kompass mehr gibt.
Franzobel: Das Floß der Medusa. Roman. Zsolnay, Wien 2017. 592 S., 26 €.
Carsten Otte
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