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Der Zug ist abgefahren: Nicole (Scarlett Johansson) und Charlie (Adam Driver) haben sich nichts mehr zu sagen.
© Netflix

Sechs Nominierungen für „The Marriage Story“ bei den Oscars 2020: Lässt sich das Unvermeidliche doch noch abwenden?

Wenn aus Alltagsbanalitäten Zumutungen werden: Scarlett Johansson und Adam Driver spielen die Rollen ihres Lebens.

Wie beginnt man ein Ehedrama, wenn die Geschichte eigentlich schon am Ende ist? Vielleicht einfach wie einen Liebesfilm, der irgendwo ganz tief da drin noch steckt, wenn auch nur als schwache Erinnerung. Denn die Gefühle sind ja nicht weg, sie haben sich nur verändert, sind abgeschliffen von den Mühen des Alltags und den Nickligkeiten, die man über die Jahre an der Partnerin oder dem Partner bemerkt. Bis aus Banalitäten Zumutungen werden, wegen derer man sich Dinge an den Kopf wirft, die man später bereut.

Also: „Was ich an Nicole liebe: Sie macht die besten Geschenke. Sie weiß, wann sie mich antreiben muss und wann sie mich besser in Ruhe lässt. Und sie schafft es nie, die Schranktüren zu schließen.“ Doch eine Familienidylle? „Was ich an Charlie liebe: Er liebt es, Vater zu sein. Er erträgt meine Launen und macht mir deswegen nie ein schlechtes Gewissen. Und er weiß sich zu kleiden, was den meisten Männern schwerfällt.“

In den ersten fünf Minuten von Noah Baumbachs „The Marriage Story“, einer berührenden, lebensklugen, alltagsgesättigten Montage aus Familienszenen, in den Nicole (Scarlett Johansson) und Charlie (Adam Driver) sich an das erinnern, was sie am anderen mal geliebt haben, steckt schon ein ganzer Film. Sagen wir, eine Romantic Comedy. Aber die Sequenz lässt auch erahnen, dass die kleinen Macken, für die man einen Menschen schätzt und wegen derer man sich auf ewig ein gemeinsames Leben vorstellen kann, irgendwann auch furchtbar nerven können. Schnitt.

In jedem Ehedrama steckt ein Liebesfilm

Nicole und Charlie sitzen, als sie sich erinnern, längst beim Paartherapeuten, um das Unvermeidliche vielleicht doch noch abzuwenden. Aber Nicole weigert sich, ihre Gedanken vorzulesen. Sie will nichts mehr von dem wissen, was sie früher an Charlie geliebt hat. Nicole will endlich ihr eigenes Leben, weg aus New York, wo sie der Star in Charlies experimentellem Off-Theaterensemble war.

An der Westküste hat sie eine Rolle in einem Pilotfilm angenommen. In Los Angeles ist ohnehin mehr Platz als im stressigen New York, woran im Laufe des Films so ziemlich jede Figur einmal erinnert – selbst die Frau vom Jugendamt, die Charlie auf seine Tauglichkeit als Vater prüft. Ihr Besuch ist erniedrigend, Baumbach holt aus der Szene aber das Höchstmaß an Absurdität heraus, inklusive einer unfreiwilligen Splattereinlage.

Und so wie in jedem Ehedrama ein Liebesfilm steckt, besitzen die besten Tragödien eine komische Qualität. Baumbach hat das kleine Wunder vollbracht, einen Scheidungsfilm als Komödie zu erzählen, ohne die bitteren Wahrheiten vorzuenthalten: die Egoismen, die hervorbrechen, die fundamentale Kommunikationsstörung und die gar nicht so salomonische Entscheidung, wider besseres Wissen einen hässlichen Sorgerechtsstreit um den achtjährigen Henry (Azhy Robertson) vom Zaun zu brechen, bei dem niemand gewinnt. Außer den Anwälten, von Laura Dern (Nicole) und Ray Liotta (Charlie) mit der kaltlächelnden Professionalität von Auftragskillern gespielt.

[„Marriage Story“. Ab Donnerstag in den Kinos Kant, Hackesche Höfe, Wolf, Kino in der Königsstadt. Ab 6. Dezember auf Netflix.]

Reduzierte Bühne für unterdrückte Emotionen

„The Marriage Story“ ist ein Schauspielerfilm, wie soll es bei einem Scheidungsdrama – beziehungsweise bei Noah Baumbach – auch anders sein. Aber was Johansson und Driver ihren Figuren geben, durchdringt das Repertoire von Komödie und Tragödie. Nicoles und Charlies Gefühle, von Zuneigung, Unverständnis, Wut, Mitleid bis Hass, verhalten sich stets diametral zueinander, selten befinden sie sich auf einer Wellenlänge.

Am schönsten, schmerzvollsten, wahrhaftigsten zeigt sich das in einer sehr langen Szene, in der Nicole und Charlie einfach nur reden wollen. Endlich, denkt man sich.

Sie treffen sich in seiner kleinen, kahlen Wohnung, die er sich während des Sorgerechtsstreits in Los Angeles genommen hat, eine angemessen reduzierte Bühne für die unterdrückten Emotionen, die sich langsam in einem furiosen Streit entladen, in dem endgültig klar wird, dass es keine gemeinsame Zukunft gibt. Dass es nur noch um das bestmögliche Arrangement geht. Am Ende liegen sie sich heulend in den Armen.

Aber „The Marriage Story“ ist auch ein echter Noah Baumbach. Ein Autorenfilm, in den sich zweifellos Erfahrungen aus seiner eigenen Scheidung von Jennifer Jason Leigh 2013 einschmuggeln. Dafür ist die Balance aus Humor, Liebe und Schmerz einfach zu perfekt austariert, anders zum Beispiel als im grimmigen Klassiker „Kramer gegen Kramer“, in dem Dustin Hoffman und Meryl Streep Figuren aus einem Bergman-Film ähneln.

Baumbach übt Nachsicht mit seinen Figuren

Vor 15 Jahren hat Baumbach in „Der Tintenfisch und der Wal“ die Scheidung seiner Eltern thematisiert. „The Marriage Story“ ist, nicht nur weil er die Geschichte aus der Sicht der Eltern erzählt, der nachsichtigere Film.

Im Gegensatz zu den Anwälten hält er seinen Figuren nicht ihre Schwächen vor. Man spürt Baumbachs Lebenserfahrung in jedem Dialog, jeder Einstellung. Aber nicht als Last, sondern in den feinen Nuancen seiner schonungslosen Beobachtungen.

Es sagt einiges über den Zustand der Filmindustrie, dass solche Meisterwerke heute von Netflix finanziert werden müssen. Es dürfte interessant werden, wie sich die Academy bei den Oscars zu „The Marriage Story“ positioniert, einem der stärksten Filme des Jahres. Baumbachs bester sowieso.

Der Ur-Brooklyner, der bereits als Nachfolger des New-York-Chronisten Woody Allen gehandelt wurde, scheint sich mit der Westküste angefreundet zu haben. „The Marriage Story“ ist nach „Greenberg“, seinem Trennungsfilm sozusagen (bei den Dreharbeiten lernte er seine jetzige Frau Greta Gerwig kennen), sein zweiter Los-Angeles-Film. Hier scheint immer die Sonne. Und es gibt reichlich Platz.

Andreas Busche

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