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Völkerwanderung. Bis Freitag kamen 1,2 Millionen Menschen.
© Michael Kappeler/dpa

Christos "Floating Piers": "Lasst euch nicht stören, die spinnen ein bisschen, die Menschen!“

Das Wunder der "Floating Piers": Heute endet auf dem italienischen Iseo-See das Projekt des Künstlers Christo. Und sein Team kämpft mit dem Erfolg.

Sie hatten mit etwa 750.000 Besuchern gerechnet, das heißt: gut 40.000 pro Tag. Aber bis zum gestrigen Freitagmittag war schon die Zahl von 1,2 Millionen erreicht, allein am Mittwoch kamen knapp Hunderttausend. Christos „Floating Piers“, die schwimmenden, gelbrotgolden schimmernden Stege über den Iseo-See hundert Kilometer östlich von Mailand, sind seit der Eröffnung am 18. Juni zum Magnet für inzwischen weit mehr als eine Million Menschen geworden. Am Sonntag endet das Projekt, und Christos Team kämpft mit dem Erfolg.

Der jetzt 81 Jahre alt gewordene bulgarisch-amerikanische Land- und Wasserkünstler schafft mit seinen fließenden, wehenden, luftig leicht und zugleich monumental eindrucksvollen In(ter)ventionen immer wieder internationale Events. Doch diesmal ist etwas anders. Wenn Christo und seine 2009 verstorbene Frau Jeanne-Claude 1976 einen 40 Kilometer langen Vorhang nahe der kalifornischen Küste zogen, 1985 den Pont-Neuf in Paris oder zehn Jahre später den Berliner Reichstag verhüllten: immer bot sich das Werk im freien Blick von außen dar, als teils magische, teils kuriose Projektionsfläche des Betrachters.

Barfuß sollen die Besucher über die Pontons wandeln

Bei den von 220-000 Kunststoffwürfeln und ihren darübergespannten safranfarbenen Stoffbahnen gebildeten Piers wird der übers Wasser wandelnde Besucher indes vom Außenbetrachter zum Mitwirkenden. So hat der Maestro empfohlen, den drei Kilometer langen Pier-Parcours vom Festland hinüber zu zwei Inseln im See nach Möglichkeit barfuß zu durchwandern. Es geht um die sinnliche Erfahrung, den weichen Stoff, die leicht schwankenden Pontons und das bei stillem Hochsommerwetter nur pulsierende Wasser unter sich als große Leibseelenmassage zu fühlen. Mit dem barrierefreien Blick über den See inmitten der oberitalienischen Berge.

Das war Christos Traum. Verbunden mit dem Wechselspiel von Licht und Farben. Von diesem Zauber war bei der Eröffnung allerhand zu spüren (siehe Tagesspiegel vom 20. Juni). Wieder hat Christo auf Eintrittsgelder verzichtet, alles soll für jedermann frei sein, an 16 Tagen möglichst 24 Stunden lang. Finanziert wird das 15-Millionenprojekt über den Verkauf der auf dem Kunstmarkt hoch gehandelten Entwurfzeichnungen Christos. Ab Montag werden die Materialien dann abgebaut und zumeist recycelt. Ein schöner Traum.

Allein, die Magie ertrinkt in der Masse. Sie bildet das beherrschende Ornament. Die Piers sind von frühmorgens bis fast Mitternacht geflutet von den unermüdlich an- und abströmenden Menschen. Danach wird die Anlage entgegen der ursprünglichen Absicht bis zur Morgendämmerung geschlossen. Tagsüber aber wirken die 16 Meter breiten Stege nun nicht mehr als leuchtende Wasserwege, sondern wie eine überwiegend schwarze Ameisenstraße. Das Werk verschwindet fast unter seinen Betrachtern, und der Mitwirkende wird vom freien Flaneur zum Herdentier. Es ist das Paradox der Eventkultur, wenn sie ein Opfer des eigenen Erfolges wird.

Trotzdem haben die „Floating Piers“ auch ihr Wunder: Das größte Kulturereignis dieses Sommers gleicht einem riesigen, merkwürdig ruhigen Volksfest, trotz Hitze, Fülle, Verkehrschaos im Umland. Es gibt keine Musik, keine Lautsprecher, alles wirkt sanft, eine friedlich hin- und herwogende Völkerwanderung, alle Weltsprachen hört man hier (viel Deutsch, viele Christo-Fans auch aus Berlin), aber das ist nur ein Summen, manchmal unterbrochen vom Gebrumm der Hubschrauber, die in den Lüften wachen, oder einer schnatternden Entenmutter, die ihren Küken zuzurufen scheint: „Lasst euch nicht stören, die spinnen ein bisschen, die Menschen!“

Auch die Menschenkinder und, das fällt auf, selbst Behinderte fühlen sich sicher: am Land und auf dem Wasser unauffällig begleitet von den vielhundert jungen, ehrenamtlichen Christo-Helfern. Man rät nur zu Trinkvorräten und Sonnenschutz, aber auch bei anderthalb Millionen Besuchern hatte es bis kurz vorm sonntäglichen Finale noch keine ernsthaften Unfälle gegeben beim Ameisengang über den See.

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