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Vor zwanzig Jahren verhalfen Jeanne-Claude und Christo der ganzen Stadt zu einem Märchentraum der Leichtigkeit.
© Wolfgang Volz/laif

20 Jahre Reichstagsverhüllung von Christo: Und es war Sommer

Vierzehn Tage, in denen sich das Leben in Berlin plötzlich so leicht anfühlte: Sechs Tagesspiegel-Redakteure erinnern sich an Christos und Jeanne-Claudes Reichstagsverhüllung im Jahr 1995.

Wann zünden die Raketen?

Ein Raumschiff war gelandet. Der Himmel war blauer als sonst, die Sonnenstrahlen intensiver, kosmisch war etwas verrutscht zu unseren Gunsten. Verschwunden das hässliche dunkle Gebäude – an seiner Stelle stand das silbrige Gefährt mit seinen Landeraketen in den Türmen. Früher hatten wir auf der Wiese Fußball gespielt, jetzt lagerten die Menschen da, als wollten sie die Energie aufnehmen, die von der glänzenden Wundererscheinung ausging.

Auf den Fotos, die wir von diesen Tagen haben, stehen die Kinder, zwei und fünf Jahre alt, vor dem verschnürten Riesengeschenk und wirken sehr klein. Dabei fühlte man sich in der Umgebung des Raumschiffs angehoben, größer. Wir gingen immer wieder hin, wollten den Moment nicht verpassen, wenn das Raumschiff plötzlich die Raketen zündet und in den Wolken verschwindet.

Im November/Dezember 1989 war es sehr kalt, einmal wurden wir um die Weihnachtszeit am Brandenburger Tor abgewiesen, kamen nicht von West nach Ost, weil die Frau einen US-Pass hatte. Die Öffnung der Mauer war kein Sommerfest. Das wurde nachgeholt, als Christo und Jeanne-Claude im Juni 1995 den Reichstag einpackten. Das wahre Sommermärchen! Die Fußball-WM elf Jahre später: auch schön. Aber getrübt vom Italienspiel und Zidanes Kopflosigkeit. Irgendwann waren wir angeblich alle auch Papst, aber viel nobler war das Gefühl, als man sagen konnte: Wir sind Christo!

Es war der Schatz im Silbersee. Eine Fata Morgana, von der man allerdings kleine Stückchen kaufen konnte und große Bilder, die nachher in Arzt- und Anwaltspraxen hingen. Die Reichstagsverhüllung hatte es enthüllt: Berlin kann eine schöne Stadt sein, im Sommer. Berlin kann eine stille Stadt sein, eine friedliche Oase. Vielleicht waren jene Sommertage mit Christo die Ruhe vor dem Sturm, der Berlin seither aufmischt.

Die Kinder auf den Fotos von damals mit dem zu blauen Blau und dem zu grünen Grün leben heute weit entfernt. Sie haben auf der Wiese vor dem Silberberg etwas erlebt, an das sie sich vielleicht einmal erinnern werden, in vielen Jahren, wenn man das Alter erreicht, in dem die Kinderzeit wieder heraufzieht und das Langzeitgedächtnis allmählich die Gegenwart wegschiebt. Rüdiger Schaper

Juni 1995: Christo macht sich an die Arbeit.
Juni 1995: Christo macht sich an die Arbeit.
© Peer Grimm/dpa

Glitzerglanzstück der Demokratie

Zwei kleine versilberte Stofffetzen sind übrig geblieben, filigran gewirkte Erinnerung. Manche haben diese Sachen eingerahmt als Schmuck in der guten Stube, andere im Schrank mit den Souvenirs, Christo neben aserbaidschanischer Baumwolle, blauen Karlsbader Trinkgefäßen und der Eintrittskarte ins Empire State Building. Mein Freund Wolfram hat Christos Reichstag, dieses wuchtige Paket der guten Laune, vom Meister signiert, an der Wand des Esszimmers. Was sich so lange frisch und in der Hirnabteilung „Zur schönen Erinnerung“ hält, kann nur eine großartige Inszenierung mit mutigen Regisseuren gewesen sein, noch dazu im Freien auf einer fußballfeldgroßen Fläche. Man hatte ja das Hickhack zwischen den Politikern von gestern und von morgen erlebt, die Würde des heruntergekommenen Gebäudes würde leiden, „Dem deutschen Volke“ sei überhaupt sakrosankt.

Und dann, als alle 5000 Genehmigungen beisammen waren, sah man staunend schon früh um sechs den Feuerkopf von Jeanne-Claude auf dem Reichstagshaus zwischen Höhenkletterern und dem zarten Künstler-Maler-Architekt-Ingenieur Christo leuchten. Einpacken ist schwere Arbeit, eine ganze Trutzburg einzuwickeln ist wie tausend Pakete schnüren. Dies hier ging in kein DHL-Auto und konnte auch nicht weggeschickt werden. Also kamen die Leute zum großen Glitzerglanzstück einer Demokratie, die die Menschen in ihren Bann zog und gleichzeitig eine Leichtigkeit vermittelte, die Berlin so nötig hatte nach all den geteilten Jahren – und die sobald nicht wiederkehren sollte. Temporäre Kunst hat auch ihre Schattenseiten. Sie ist dann plötzlich mal weg. Zum Greifen nah sind nurmehr Bilder und Stofffetzen. Lothar Heinke

Flieg, Gedanke!

In den Ohren von Luftfahrtfans mag das Brummen einer 1951er De Havilland Dove durchaus wie Musik klingen. Die Besucher der Classic-Open-Air- Eröffnung allerdings, die sich am 6. Juli auf dem Gendarmenmarkt versammelt haben, nehmen die Motorgeräusche eher als Ärgernis wahr. Vor allem, wenn das Kleinflugzeug direkt durch die „Macht des Schicksals“-Ouvertüre knattert.

75 weitere Privatjets werden an diesem Abend folgen: Sie kommen alle von Nordwesten, ziehen im weiten Bogen über den Platz hinweg, um dann wieder den Reichstag anzusteuern. 150 Mark pro Nase haben die Insassen für die 30-Minuten-Luftnummer ab Flugplatz Strausberg berappt. Jedes Mal gehen die Köpfe der Konzertbesucher wieder nach oben, wenn sich die Donnervögel in ihre Ohrmuscheln drängeln. Wobei die Piloten intuitiv derselben Regel folgen wie die Bonbonknisterer in der Philharmonie: Sie warten immer bis zum nächsten Pianissimo.

Erst als die Dunkelheit hereinbricht, endet die Fliegerrevue, und die Stars des Abends, Dame Gwyneth Jones und Countertenor Jochen Kowalski, können endlich ihre Gefühle auspacken. Die Stimmung steigt, am Ende werden sie zehn Zugaben gegeben haben: Puccini und Wagner sind dabei, „Hoffmanns Erzählungen“ und die „Fledermaus“. Fehlt nur noch die heimliche Nationalhymne der Italiener, aus Verdis „Nabucco“: Flieg Gedanke… Frederik Hanssen

Christo bei einer Pressekonferenz am 17.6.2015 im Reichstag.
Christo bei einer Pressekonferenz am 17.6.2015 im Reichstag.
© Jörg Carstensen/dpa

Sie haben den Reichstag geschrumpft!

Und jetzt ist auch noch das Stoffstück weg. Wo es doch 19 Jahre und mindestens 350 Tage immer an der selben Stelle verwahrt war. Auf dem Hängeboden. Bei den historischen Devotionalien. Da wo immer noch die Tagesspiegel-Extrablätter von Oktober und November 1989 liegen und das selbst abgepickelte Mauerstück. Ja, wo ist das graue, kratzige Viereck, das viel gröber gewebt war, als sein feiner Schimmer von Ferne ahnen ließ? Das kleine Kultquadrat, für das man am Ende der Reichstagsverhüllung anstehen musste? Ausgerechnet, wenn’s drauf ankommt. Wo die Erinnerung zum Jahrestag getriggert werden will, da ist mein eigener Christo weg.

Vom Boden, aber dann doch nicht aus dem Kopf. Nur ein bisschen der Erinnerung nachspüren und alles kommt wieder zurück. Das Love-Peace-and-Happiness-Gefühl. Das Atemanhalten beim Betrachten der angeseilten Fassadenkletterer. Die ernste, allgemeine Sorge um die beknackten Turmfalken, die zum temporären Umzug genötigt waren. Das Amüsement beim stückweisen Verschwinden des patinösen Kastens. Und das Staunen, als die Verhüllung vollendet und das Paket geschnürt war.

Da wirkte der Reichstag – Überraschung! –, dieses erhabene, geschichtsträchtige Gemäuer, nämlich bar seines architektonischen Zierrats, reduziert auf reine Kontur, plötzlich so klein. Geradezu handlich, wie ein Postpaket. Selbst wenn man direkt daneben stand und die Stoffbahn hochschaute. Irritierendes Gefühl. Hilfe, Hilfe, die Künstler haben den Reichstag geschrumpft! Dürfen die das? Dann das Durchatmen. Doll, was die Kunst alles kann. Das ist meine Chance, als Bürgerin endlich mal 14 Tage lang größer als ein Symbol der Staatsmacht zu sein. Danke, Jeanne-Claude, Freedom up, Freedom! Gunda Bartels

Die Wächterin der Wunderburg

Berlin wollte Stoff! Wir hatten ihn, als Arbeitnehmer der Kunst. Wir, die wir uns zwei Wochen lang apparatehaft „Monitore“ nennen ließen, in Sechs-Stunden-Schichten Wache schoben, 15 von uns, laut Arbeitsvertrag, in Team C, 41-50. Schichtbeginn um 11, 17, 23 und 5 Uhr. Berlin schwappte als große Welle des Begehrens heran, Tag und Nacht wie Ebbe und Flut, umspülte es die Stufen des Reichstags. Wir sollten den Stoff verteilen und auf den Reichstag aufpassen, man hatte uns mit Funkgeräten ausgestattet, aber die Angst vor Graffiti war unbegründet.

Zwei Wochen umstanden wir diesen großen Gletscher des künstlerischen Willens, immer mit denselben Leuten, die an den unterschiedlichsten Punkten in ihrem Leben standen. In einer kalten Nacht mit Schlafsack – das war nicht gern gesehen. Laut Arbeitsanweisung sollten wir stehen. Nach jeder Schicht gab es ein Essen im Reichstagspräsidentenpalais an der Ostseite. Christo und Jeanne-Claude waren dort, die Organisatoren; der Koch, hieß es, arbeite sonst im Golfklub Wannsee. Für jemanden, der soeben nach Berlin gezogen war, um ein neues Leben zu beginnen, war das der beste Anfang, den man sich vorstellen kann. Klar gibt es heute noch einen Stoffschnipsel in einer Kiste, aber das Erfreulichste ist doch eine inzwischen 20 Jahre alte Freundschaft aus Team C, 41-50. Deike Diening

Kunst kommt von Knallen

Das Berlin der Neunziger muss man sich in der Kunst als Bühne des Möglichen vorstellen. Die Institutionen waren fad, aus dem Schlummer ihrer Mauerexistenz noch nicht erwacht, die Galerien verschüchtert, die heutigen Player gerade am Start. Es brodelte versteckt und ploppte nur dann und wann auf, mal mit einer Ausstellung in einem ehemaligen Supermarkt oder Clubs in Abrisskellern, deren Einrichtung von Künstlern stammte. In dieser Szenerie tauchte Christo mit seinem „Wrapped Reichstag“ wie eine Urgewalt auf, nach dem Motto: „Kunst kommt von Knallen“.

Aber war das wirklich Kunst? War das nicht eher ein Event wie ein Feuerwerk oder viele gleichzeitig in die Luft gelassene Ballons? Etwas, das ein Publikum temporär beglückt, ein kollektives Erinnerungsbild beschert? Als Kunstredakteurin war es eine Sache der Ehre, sich gegen diese Verwässerung der Begrifflichkeiten zu wehren, auch wenn es die Freundschaft mit der Chefredakteurin kostete.

Punkt eins bestand darin, Christo zwar als großartigen Macher, ja Visionär gelten zu lassen, ihn aber als Künstler infrage zu stellen. Als Punkt zwei erfuhr sein Werk eine kritische Einordnung, um es als kunsthistorisch relevant irgendwann in den Sechzigern enden zu lassen, in denen er als Mitglied der „Nouveau Réalistes“ mit seinen verpackten Alltagsgegenständen wirklich Neues schuf, Dada auf die nächste Stufe hob. Unter Punkt drei sollte dann der Reichstag an die Reihe kommen. Keine Chance. Der war wirklich schön – und der Rest Staunen. Nicola Kuhn

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