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Traumpaar des Weird Folk. Courtney Barnett und Kurt Vile harmonieren musikalisch prächtig miteinander, sind aber nicht privat miteinander liiert.
© Matador.

„Lotta Sea Lice“ von Courtney Barnett und Kurt Vile: Langsam ist das neue Schnell

Träumen statt tanzen: Pop wird immer sanfter, heißt es. Das zeigt auch das Folk-Duo Courtney Barnett und Kurt Vile mit ihrem grandiosen Album „Lotta Sea Lice“.

Dem Rock ’n’ Roll geht angeblich langsam die Puste aus. Vor Kurzem veröffentlichte die amerikanische Musikzeitschrift „Rolling Stone“ einen viel beachteten Artikel mit einer bangen Frage als Titel: „How Did Pop Music Get So Slow?“ Der Autor Elias Leight stellt die These auf, dass die Musik, die es in die Charts schafft, heute so lahm geworden ist wie nicht mehr seit der Softrockphase der frühen achtziger Jahre, die auch ein Backlash gegen die Disco-Welle war. Er bezieht sich auf aktuelle Downbeat-Sommerhits wie „Despacito“ von Luis Fonsi and Daddy Yankee oder „I’m the One“ von DJ Khaled, die es nicht mal auf 90 Beats Per Minute (BPM) bringen. Aber es geht nicht nur darum, nicht nur um Dance-Music.

Erste wissenschaftliche Untersuchen scheinen den Eindruck zu bestätigen. Der Software-Entwickler Yakov Vorobyev, der die populäre DJ-App Mixed in Key entwickelt hat, nutzte sein Tool, um die 25 meistgestreamten Tracks bei Spotify der Jahre 2012 bis 2017 miteinander zu vergleichen. Ergebnis: Ihr Tempo fiel von 110 auf 90 BPM. Und warum? Weil die Menschen seit 9/11 in Zeiten von Terror-, Finanz- und Demokratiekrisen Trost suchen statt Tanz. „Die Leute würden sich nicht gut dabei fühlen, wenn sie jetzt frenetisch auf- und abhüpften“, sagt die Sängerin Bonnie McKee, die drei Nummer-1-Hits für Katy Perry schrieb.

Sehnsucht nach Lagerfeuerliedern

Die Behauptung, dass Slow zum neuen Fast – Langsam zum neuen Schnell – wird, mag das Ergebnis selektiver Wahrnehmung sein. Würde man sich Genres wie Heavy Metal oder Techno anschauen, fielen die Zahlen möglicherweise anders aus. Aber der Folk-Boom scheint die Behauptung zu bestätigen. Eine ursprünglich ländlich und akustisch geprägte Musik hat sich vom gewollt abseitigen Weird Folk bis zum paradoxen Phänomen des Stadion Folk aufgefächert, bei dem Bands wie Mumfords & Sons oder deren Kölner Adepten Annen May Kantereit ihre Lagerfeuerlieder vor zehntausenden Zuhörern spielen.

Courtney Barnett und Kurt Vile, deren Album „Lotta Sea Lice“ soeben erschienen ist, befinden sich zwischen diesen beiden Polen: immer noch Indie, aber beide bereits Größen aus eigenem Recht. Vor 28 Jahren in Sydney/Australien geboren und aufgewachsen in einem Künstlerhaushalt, schaffte es Courtney Barnett mit ihrem philosophisch betitelten Debütalbum „Sometimes I Sit and Think, and Sometimes I Just Sit“ immerhin auf Platz 20 der US-Charts. Kurt Vile, der vor 37 Jahren in Philadelphia zur Welt kam, gehörte zu den Gründungsmitgliedern von The War on Drugs, wandte sich dann aber wohl wegen zu viel Pathos von der Band ab, gründete seine neue Backing-Band The Violators und brachte seit 2011 drei Soloalben heraus, die sich ebenfalls im Hitparaden-Mittelfeld behaupten konnten. „Lotta Sea Lice“ heißt übersetzt so viel wie „sehr viele Seeläuse“. Man könnte denken, dass Barnett und Vile ihre Verbindung mit Flora und Fauna selbst noch in der mikroskopisch kleinsten Erscheinung betonen wollten. In Wirklichkeit meinen sie vielleicht eher jene „rätselhaften Tierchen“, die im Sommer Schlagzeilen machten, weil sie an australischen Stränden wiederholt Teenager blutig gebissen haben sollen.

Das Album beginnt mit der majestätisch vor sich hinfließenden Ballade „Over Everything“, in der es, wie der bescheidene Titel verspricht, tatsächlich um sämtliche Gefühlszustände zwischen Euphorie und Verzweiflung und mehr noch um die Musik selbst geht, mit der sich jede Seelenpein besiegen lässt. Barnett und Vile werfen sich in berückenden Wechselgesängen die Bälle zu, die Schlüsselverse lauten: „When I’m all alone on my own by my lonesome / I wanna dig into my guitar bend a blues riff / That hangs over everything.“ Fünf Gitarren sind kunstvoll zu einer prinzipiell endlosen Komposition ineinandergeflochten, die an den Post-Rock von Pavement erinnert. Um den Blues zu vertreiben, ist nichts besser als ein Blues-Riff.

Ähnlich grandios, nur deutlich lauter stellen Barnett und Vile in „Fear Is Like a Forest“ die Gefühle von Angst und Liebe einander gegenüber, wobei sie zu überraschend ironischen Schlüssen gelangen: „Touch is like a tourist / You know when you are home / It’s not that I'm a purist / It’s just I’d rather be alone.“ Wenn man schon nicht berührt wird, dann sollte das wenigstens eine eigene Entscheidung sein. Die splitternden E-Gitarren-Akkorde wirken wie eine Hommage an den Neil Young seiner „Cowgirl in the Sand“-Anfänge.

Im Video zu „Over Everything“ sitzen Barnett und Vile vor blühenden Vorgärten, einer Autobahnbrücke oder an einem Flussufer und singen abwechselnd die Zeilen des jeweils anderen. Privat sind sie trotzdem kein Paar. Draußen vor der Tür, das ist ihr Platz. Sie sind gerne Outsider.

„Lotta Sea Lice“ von Courtney Barnett & Kurt Vile ist bei Matador erschienen

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