"Elektra" an der Neuköllner Oper: Küss mich nicht!
Wo Blut herrscht und Milch spritzt: eine monströse „Elektra“ an der Neuköllner Oper.
Freie Platzwahl? Nun ja, zum Teil: Erst mal müssen alle warten, bis drei in Prinzessin-Amidala-Manier bezopfte und beschleierte Damen sich erbarmt haben, jeden Einzelnen ins kleine Studio der Neuköllner Oper zu führen. Trommelwirbel, ein Sänger schreit in höchsten Lagen. Ostasiatisch, afrikanisch, indianisch? Eine Musik mit vielen Assoziationen. Dann hat man es geschafft, sitzt und starrt – in einen Graben oder Schlitz, aus dem Dampf dringt. Und noch andere Ungeheuer. Der Sänger, sein Name ist Thorbjörn Björnsson, erweist sich als Extremschauspieler, als Rampensau, vor der nichts sicher ist. Wegen der Wucht seiner Stimme windet sich das Trommelfell in Schmerzen, der enge Raum tut sein Übriges. Dann gießt sich Björnsson Zucker in den Tee, esslöffelweise, und sagt: „Ich habe keine guten Nächte!“ Alles klar: Er ist, unter anderem, Klytämnestra. Und Orest natürlich auch.
Mit Richard Strauss hat diese Elektra- Interpretation von Regisseurin Julia Lwowski (wieder 14., 17., 18., 19., 28. Februar und im März) nicht viel zu tun. Dafür umso mehr mit dem Stück von Hugo von Hofmannsthal, auf dem die Oper basiert. Die Musik (Schlagwerk: Ni Fan) stammt von Xenakis, Gluck, Bach, Schumann und dem russischen Komponisten Chatschatur Kanajan. Die Elektra von Gina-Lisa Maiwald blickt mit großen, ungläubigen Augen in die Welt wie eine Neugeborene. Doch warum kichert sie so oft über sich selbst? Fällt sie aus der Rolle, ist es Unvermögen? Absicht? Nicht die einzige Verunsicherung des Abends.
Die andere ist Björnsson. Er ist furchterregend. Ein Monster. Tätschelt seinen Bauch, krabbelt klammeraffengleich an den Scheinwerferstangen nach oben, verspritzt Flüssigkeiten, eine Packung H- Milch (fettarm!), knallt seinen massigen Körper gegen das Gitter, dass die Sitze wackeln. Geht umher, küsst jeden Bedauernswerten in der ersten Reihe. Und alle denken: Bitte nicht mich! Eine verstörende Inszenierung, und sicher nicht die beste Elektra, die je in Berlin zu sehen war. Aber sie traut sich was, auch wenn sie mehr als einmal mit Karacho danebenknallt. Was sie, immerhin, schafft: Atmosphäre herzustellen. Eine Ahnung vom kalten Horror, von der dumpfen, besinnungslosen Abfolge aus Rache und Blutvergießen am Hof von Mykene. Ein Abend, den man nicht noch mal sehen möchte. Aber der einen anfasst.