Im Kino: "Alles was kommt": Die Entdeckung der Einsamkeit
Gewinner des Silbernen Bären auf der diesjährigen Berlinale: In „Alles was kommt“ von Mia Hansen-Løve spielt Isabelle Huppert eine Intellektuelle im beginnenden Lebensherbst.
Bis eben zählte sie noch zu denen, für die jeder neue Tag eine Bestätigung ihres In-der-Welt-Seins ist: Wenn die Gegenwart sich orientieren will, dann doch bitte an mir! Lohnt es sich denn zu leben, ohne Maßstäbe zu setzen? Man nennt die Art von Menschen, die ein etwas herablassendes Verhältnis zu dem unterhalten, was andere mit Respekt die Wirklichkeit nennen, auch Philosophen. Wirk-lichkeit. Da steckt „wirken“ drin, sie ist also etwas Gewordenes, nicht etwas Gegebenes, wie die Positivisten meinen – doch halt: Ausführungen wie diese mögen in Nathalies Philosophieunterricht am Platz sein, aber kaum in einer Filmkritik.
Nathalie gehört der Sekte der Allesdurchschauer an – mit Eros und Logos, mit Herz und Verstand. Und sie besitzt nicht nur die Interpretationshoheit, sondern hält die Zügel ihres Lebens auch sonst fest in Händen. Nathalie, eine Frau im Niemandsland irgendwo zwischen vierzig und fünfzig. Aber die Irritationen mehren sich.
„Alles was kommt“ gewann auf der jüngsten Berlinale den Silbernen Bären für die Regie. Die Pariser Regisseurin Mia Hansen-Løve begann vor der Kamera; mit 17 war sie in Olivier Assayas „Ende August, Anfang September“ zu sehen. „Alles was kommt“ ist mehr ein Ende-Oktober-Anfang-November-Film, aber er zählt gewiss zu den berührendsten und dabei sprödesten Spätherbstfilmen überhaupt. Das liegt vor allem an Isabelle Huppert als Nathalie, und doch spielt sie vielleicht gar nicht die Hauptrolle. Eher spielt sie die Musik, dabei gibt es gar nicht viele Noten in diesem Film. Aber sie übernimmt den eigentlichen philosophischen Part: den des Deuters, des Interpreten. Der Kommentar liegt bei ihr. Und ihre Einsätze in dem Bilderstrom sind jedes Mal furios.
Der Augenblick der Wahrheit im Philosophenhaushalt
Ist es frauenfeindlich zu sagen, dass man vielen schönen Frauen die Intellektuelle kaum glauben würde? Der alte Gegensatz von Sinnlichkeit und Verstand – irgendwie scheint er noch immer in Kraft zu sein. Dass in Isabelle Hupperts Fall nie ein Zweifel aufkommt an Nathalies Leben zwischen Rousseau und Adorno, Schopenhauer und Foucault, scheint dafür zu sprechen, dass die Schönheit eben doch eine geistige Kategorie ist.
Der Alltag ist ganz sicher keine. Der Alltag ist das, was uns täglich von unserem Quell abziehen will, er ist ein einziger Hindernislauf. Vor allem, wenn man eine alte Mutter hat, die vor lauter Lebensmüdigkeit nicht mehr aufstehen mag und vorzugsweise nachts um drei anruft, weil sie eine Panikattacke nahen fühlt.
Allerdings hat Nathalies Mutter auch ihre genialen Seiten. „Dein Mann, wie war noch mal sein Name?“, fragt sie. Heinz? Ja leider, Heinz. Sie hätte nie einen Mann geheiratet, der so heißt. Heinz ist natürlich auch Philosoph, zumindest Philosophielehrer, außerdem hat er eine Neue, nach 25 Jahren Ehe. Und er will mit ihr leben.
Wie aber darf man sich den Augenblick dieser Wahrheit in einem Philosophenhaushalt vorstellen? Nathalie hat, vielleicht anders als die meisten Frauen in vergleichbarer Situation, im Grunde nur eine Frage: Wieso sagst du mir das? Schweigen ist nicht zuletzt eine Form der Höflichkeit. Philosophisch betrachtet, verstößt es zwar gegen den Grundsatz der Wahrhaftigkeit, aber die Maxime der besseren Lebbarkeit hat es ganz sicher auf seiner Seite. In einem anderen Film dürfte man Sätze wie diese vielleicht Pointen nennen, hier nicht. „Alles, was kommt“ ist keine Komödie, auch und erst recht keine Tragikomödie.
Und auf einmal ist sie eine "Autorin älteren Typs"
Der Gestus des Films wirkt wie ein kinematografischer Anwendungsfall von Wittgensteins „Tractatus logico-philosophicus“: „Die Art und Weise, wie die Gegenstände im Sachverhalt zusammenhängen, ist die Struktur des Sachverhalts.“ Und immer so weiter, genau in dieser erkältenden Nüchternheit. Zur Struktur des Sachverhalts, der Nathalies Leben ist, gehört auch, dass ihr Mann, als er auszieht, ihre Emmanuel-Levinas-Ausgabe mit allen Notizen mitnimmt, und den ganzen Martin Buber auch. „Die Welt als Wille und Vorstellung“ aber will sie zurück. Außerdem gehört dazu, dass der Schulbuchverlag, für den sie schreibt, eine neue Marketingabteilung bekommen hat. Ist sie nicht eher eine Autorin älteren Typs? Und selbst ihr Lieblingsschüler denkt anders als sie.
„Alles was kommt“ ist gleichsam ein Film in Protokollsätzen, in Protokollbildern. Bei Wittgenstein folgt schließlich der Satz „Worüber man nicht sprechen kann, davon muss man schweigen“. Die meinende Sprache wohl, aber nicht die Musik – ob es Schuberts „Auf dem Wasser zu singen“ ist oder Woody Guthrie oder, ganz am Ende, „Unchained Melody“, aber nicht von den Everly Brothers gesungen. In dem Augenblick, da sie einsetzt, sprengt sie die Bilder, oder nein: Sie weitet sie bis an die Grenzen der Welt.
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