Finale beim Bachmann-Wettbewerb: Kritik? Das ist doch der coolste Kick!
Herr Gröttrup, seine Frau und ich: Die 44-jährige Britin Sharon Dodua Otoo gewinnt den Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt.
Als am vergangenen Mittwoch bei der Eröffnung des Bachmann-Wettlesens der einstige Juryvorsitzende Burkhard Spinnen seine sogenannte „Klagenfurter Rede“ zur Literatur hielt, war die Verblüffung groß: Ist so viel Selbstbezüglichkeit, wie sie Spinnen demonstrierte, so viel Arbeit am Mythos gut als Auftakt für einen Wettbewerb, der dieses Jahr seinen 40. Geburtstag feiert? Dem regelmäßig Überholtheit vorgeworfen wird? Dessen Abschaffung von außen gern mal gefordert und von innen diskutiert wird, vom ausrichtenden ORF und der Stadt Klagenfurt? Wer da also so frisch vollen Kopfes aus der Brexit-Terror-EM-Welt eingeflogen kam, hatte nach Spinnens Rede Fluchtreflexe, wollte gleich wieder weg aus diesem luftdicht verschlossenen Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbsraum.
Doch so schlimm sollte es nicht werden. Was nicht nur am herrlichen Wetter, am Baden im Wörthersee und der Sommerferienatmosphäre lag. Tatsächlich hatte die Jury mit ihrer Auswahl dafür gesorgt, dass der Wettbewerb so gegenwärtig wie lange nicht war, wenn man so will, o Schreck, welthaltig. Drei der 14 Autoren und Autorinnen wurden nicht im deutschsprachigen Raum geboren. Sharon Dodua Otoo in London, Tomer Gardi in Israel, Sylvie Schenk in Frankreich, einer hat einen türkischen Hintergrund, Selim Özdogan, ein anderer einen serbischen, Marko Dinic.
Zwei Preisträgerinnen leben in Berlin
Nun mag Herkunft allein nicht für Welt- und Realitätsbezüge stehen, doch ein Großteil der Texte war nah dran an unserer aufregend fragmentierten Zeit. Es ging darin um den Einbruch des Fremden in gewohnte Ordnungen, wie bei Astrid Sozio und Jan Snela, um Kindheit und Krieg, wie bei Marko Dinic und Sylvie Schenk, um Virtualität von Kriegen, wie bei Isabel Lehn, um das Leben am Rand der Gesellschaft, wie bei Stefanie Sargnagel. Oder um die Veränderung von Sprache unter Migrationsbedingungen, wie es Tomer Gardi mit seinem gebrochenen Deutsch demonstrierte.
Seltsamerweise jedoch wurden drei Texte ausgezeichnet, die Klagenfurttypisches präsentierten. Die 44 Jahre alte, in Berlin lebende Autorin Sharon Dodua Otoo gewann den mit 25 000 Euro dotierten Bachmann-Preis für ihren Text, der zunächst nervig detailliert eine Frühstücksszene bei dem alten Ehepaar Gröttrup beschreibt. Otoos Erzählung bekommt im zweiten Teil mit einem ungeborenen, sich in vielerlei Dinge hineinimaginierenden Ich eine neue Perspektive. Plötzlich bewegt sie sich in diversen Zeiten und Räumen, diskutiert Zuschreibungen durch Sprache und Herkunft, hat zudem eine Schlusspointe. Ja, das ist gut gemacht, sprachlich aber nicht herausragend – und nicht so witzig und cool, wie die Jury fand. Meine Güte: Loriot-Parodien! Vor allem wirkte Otoos Erzählung in ihrer klugen Kompaktheit wie auf den Wettbewerb zugeschnitten.
Dieter Zwicky erzählt von einem krebskranken Ingenieur
Den zweiten, mit 10 000 Euro dotierten und von einem österreichischen Stromunternehmen gestifteten Preis bekam der Schweizer Schriftsteller Dieter Zwicky für sein Stückchen über einen zungenkrebskranken Ingenieur, der mit seiner Frau durch die US-Wüstenstadt Los Alamos stromert. Dicht, rätselhaft, hermetisch ist diese Erzählung, ein Spaß nahe am Nonsens. Sie endet mit dem hübschen, auf sich selbst verweisenden Sätzchen: „Los Alamos kann einen ganz schön verschnupfen“.
Und schließlich durfte die Berliner Autorin Julia Wolf den mit 7500 Euro dotierten 3sat-Preis in Empfang nehmen für ihren Romanauszug, in dem ein 69-Jähriger die Hauptrolle spielt. Der hat sich im Schwimmbad den Kopf aufgeschlagen und berichtet nun, warum und wie er täglich 1000 Meter schwimmt. Er macht sich Gedanken über Alter, Ehe und Potenz. Wolf kann ordentlich erzählen, ihre Prosa fließt ruhig dahin, aufgestört von mancher Ellipse, geschickt schiebt sie Vergangenheits- und Gegenwartsebene ineinander. Aber war sie, wie Zwicky, wie Otoo, wirklich besser als andere Autoren und Autorinnen?
Es ließ sich dieses Jahr kaum vorhersehen, wer gewinnen würde. Das Mittelfeld war dicht zugestellt, gehobenes Mittelmaß regierte: in Marko Dinics gediegen erzählter Kindheitserinnerung aus dem Jugoslawien zur Zeit Milosevics, in Isabelle Lehns mal in einem deutschen Dorf, mal in einem militärischen Ausbildungslager errichteten Prekariats- und Kriegsspiel- Setting, in Ada Dorians braver, symbolisch arg aufgeladener Erzählung über einen alten Mann, der sich in seinem Schlafzimmer Bäume hält, weil er sich so an Russland erinnert fühlt.
Erstaunlich war, wie sich die Jury im stillen Kämmerlein wieder von Stefanie Sargnagel und ihrer Kneipen-, Kaputtness- und Facebook-Alltagsprosa abwandte, nachdem sie diese in ihrer Diskussion über die Maßen interpretatorisch aufgepumpt hatte.
So mancher Juror kommt nicht zum Punkt
Und wie sie Jan Snelas wirklich witzigen, sprachlich toll gearbeiteten, high und low fein austarierenden Text über einen Mann, der einen Araber und seine zwei Schakale aufnimmt, gleichfalls über die Maßen politisierte. Zu viel Realität tut in Klagenfurt auch nicht gut, wie bei Stefanie Sargnagel. Und zu viel Hereinlesen, wie bei Snela, kann ebenfalls zum Problem werden.
So war man mancher Diskussion schnell überdrüssig, weil sie schwerfällig losging, jedes Jurymitglied erneut den Inhalt referierte, sie zum anderen nach hinten raus ein paar interpretatorische Runden zu viel drehte. Die „Texte“ (ein sowieso unschöner, technokratischer, an wissenschaftliche Literatur gemahnender Ausdruck für erzählende Prosa) dürften sich gewundert haben, wie sie hin- und hergewendet, aus ihrem ureigenen Zusammenhang gerissen und in literaturdiskursive Zusammenhänge geschmissen wurden, wie die Jury mit ihnen „kollaborierte“. Die meiste Zeit war sich die Jury relativ einig, selbst in ihrer Uneinigkeit noch. Es fehlten: Schärfen, Kanten, Polemik, Entertainment, das kritische Spiel mit- und gegeneinander.
Was war es für eine Überraschung, als Klaus Kastberger einen letzten Satz von Sandra Kegel über Ada Dorians Geschichte wiederholte, ohne mehr draus zu machen: „Das ist geschrieben wie ein Heimatroman aus den fünfziger Jahren, aber ich würde ihn nicht gleich abwerten wollen.“ Und hätte nicht mal jemand dem sympathisch-jünglingshaften, aber wirren Juri Steiner sagen können: „Ich verstehe Sie nicht. Haben Sie nicht gerade Quatsch erzählt?“ Oder zu Hildegard Keller: „Bitte kommen Sie auf den Punkt!“
Der "Spiegel"-Popkritiker kritisiert das "Primat der Kritik"
Zu viel Partnerschaft untereinander und mit den Autoren und Autorinnen fördert das Betriebsklima, wirkt aber trotz literaturkritischer Höchstleistungen einschläfernd – wir sind hier zwar nicht im „Literarischen Quartett“, aber eben auch im Fernsehen. Nur gut, dass schon am Donnerstag die Jury im Besonderen und der Wettbewerb im Allgemeinen aufs Schönste in ihrer Wichtigkeit bestärkt wurden. Der Popkritiker des „Spiegel“ ereiferte sich in der Online-Ausgabe des Magazins über das „Primat der Kritik“, das in Klagenfurt behauptet werde. Obwohl doch die Literaturkritik ihre Relevanz verloren habe, wegen des Strukturwandels der literarischen Öffentlichkeit, von wegen Facebook, Blogs, Amazon-Kritiken etc. Für Aufregung sorgte das in Klagenfurt nicht, im Gegenteil: Die Freude über diese Art Zuspruch war groß. Wenn sich weiter so intensiv an der Inszenierung in Klagenfurt abgearbeitet wird, hat der Wettbewerb noch viel Zukunft.
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