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Wiederbeginn im leeren Saal. Die Musiker bei der Probe in Berlin am Gendarmenmarkt.
© Markus Werner/Konzerthaus

Erstes Konzert seit dem Lockdown: Konzerthausorchester tritt in Dortmund auf

Das Konzerthausorchester Berlin kann zu Hause nicht auftreten – und wird bei der Wiedereröffnung mit der Dirigentin Mirga Gražinyte-Tyla in Dortmund gefeiert.

Freitagmorgen, zehn Uhr am Gendarmenmarkt, Probenbeginn im Großen Saal des Konzerthauses. Zum ersten Mal seit der Einstellung des Spielbetriebs kommen die Musikerinnen und Musiker des Konzerthausorchesters wieder in Orchesterstärke zusammen, um ein abendfüllendes Programm einzustudieren. 

Bis zu diesem Zeitpunkt haben sie sich über Chatgruppen ausgetauscht, online in Splitscreens oder live in Kleinstformationen zusammen musiziert. Doch ein Orchester ist ein sensibles soziales Wesen, es muss spielen, um lebendig zu bleiben.

Vor der ersehnten Wiederaufnahme des Probenbetriebs stehen besondere Hürden. Alle Mitwirkenden müssen sich vorab einem Corona-Test unterziehen, im Haus gelten Maskenpflicht und eine besondere Wegeführung. Links und rechts auf der Bühne stehen Tische mit Desinfektionsmitteln, zwischen den Bläsern Plexiglaswände. 

Enger Parcours von Regeln

Das Kondensat, das beim Spielen entsteht, muss aufgefangen, das Instrument mit Einmaltüchern gereinigt werden, für die ein spezieller Abfalleimer bereitsteht. Ein enger Parcours von Regeln soll die Rückkehr zur Routine ermöglichen, den Ausgangspunkt des Orchesters in das Abenteuer Musik.

Und noch etwas ist ganz anders als gewohnt. Die Musik, die hier einstudiert wird, kann im Konzerthaus nicht vor Publikum aufgeführt werden. Die Konzertsäle und Theater der Hauptstadt sind bis zum 31. Juli geschlossen, die Saison ist gelaufen, es sei denn, man kann auf Veranstaltungen unter freiem Himmel umsteigen. 

Was das Konzerthausorchester probt, wird so zum Wiedereröffnungskonzert in Dortmund. Dort erlauben die Behörden den Konzertbetrieb unter strengen Auflagen. Die Berliner Musiker waren für ein Gastspiel unter ihrem Chefdirigenten Christoph Eschenbach eingeladen. Es findet statt, allerdings ohne den noch in seiner Pariser Wohnung festsitzenden Maestro und ohne die geplanten Stationen Berlin und Hamburg.

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„Es ist schon befremdlich, nicht im Konzerthaus auftreten zu können“, sagt Karoline Bestehorn, Geigerin und Mitglied des Orchestervorstands. Doch die Freude darüber, endlich wieder vor Publikum zu spielen, überwiegt letztlich alles. Darin weiß sich Bestehorn in vollem Einklang mit der Einspringerin am Pult. 

Mirga Gražinyte-Tyla, Chefdirigentin in Birmingham, kann gerade nicht mit ihrem Orchester arbeiten. Im achten Monat schwanger mit dem zweiten Kind, ergreift die Dirigentin dankbar diese Gelegenheit, im Konzerthaus den Taktstock zu übernehmen. Musik, das spürt man bei Gražinyte-Tyla in jeder Sekunde, ist kein Luxus. Sie ist ein elementares Bedürfnis und nur in Gemeinschaft zu erleben.

Maximal 32 Musikerinnen und Musiker plus Dirigentin sind gemeinsam auf dem Podium. Diese Anzahl bemisst sich nach der deutlich kleineren Bühne in Dortmund, die damit auch die Musikauswahl bestimmt. Statt Brahms wird die weniger monumentale und zwischen „Eroica“ und „Fünfter“ leicht übergangene 4. Sinfonie von Beethoven gespielt. 

Die Räume zwischen den Pulten sind groß, statt in Pärchen sitzen alle Musiker allein vor ihren Noten. Eine ungewohnte Situation. „Die ersten Proben mit diesen weiten Abständen haben uns Vertrauen gegeben“, sagt Gražinyte-Tyla zur Einstimmung. „Jetzt wünsche ich uns noch mehr Mut zum Risiko für die nächsten Tage.“

Während der Probe wird auch auf der Bühne Maske getragen, nur die Bläser und die Dirigentin sind davon befreit. Deren Ansagen wären sonst nur schwer zu verstehen. Und Mirga Gražinyte-Tyla hat eine Menge zu sagen, auszutauschen, anzuregen. 

Es ist die erste Zusammenarbeit der 33-Jährigen mit dem Konzerthausorchester, das, ausgehungert nach Musik, auch längere Proben als gewöhnlich am Stück spielt, um Gänge durchs Haus zu minimieren. Manch ein Blick über den Maskenrand fällt besonders intensiv aus, in der Hoffnung, dass er auch bei gemindertem mimischen Ausdrucksvermögen beim entfernten Pultnachbarn ankommen möge.

Nach der Probe strahlt Karoline Bestehorn: „Die Finger fühlen sich wieder ganz anders an!“ Um in Spielform zu bleiben, hat sich die Geigerin mit ihrem Mann, der auch im Orchester spielt, wechselseitig Etüden aufgegeben. Die soziale Kraft der Musik konnte sie Corona zum Trotz bei Duokonzerten im Kinderklinikum Buch spüren. 

Ihr Kollege Rainer Luft, Solo-Fagottist und seit 1979 im Orchester, hat seit der Schließung des Konzerthauses mit Telefonkonzerten Kontakt zu älteren Abonnenten gehalten, die keine Musik online hören. „Da wurden aus den geplanten fünf Minuten schnell 15“, sagt er. Und: „Die Leute wollen, sobald es geht, alle wieder ins Konzert kommen.“ 

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Dass das in Dortmund tatsächlich klappt, war erst zehn Tage vor dem Auftritt sicher. Da wusste das Orchester noch gar nicht, wie die Anreise funktionieren sollte. Schließlich ging es individuell mit der Bahn.

Sonntagabend, 19 Uhr. Raphael von Hoensbroech betritt mit Maske die Bühne, nimmt sie ab und atmet einmal tief durch. „Ich hoffe, Sie haben genügend Platz“, ruft der Intendant des Konzerthauses Dortmund in einen Saal, aus dem ihm die weißen Schilder der gesperrten Sitze entgegenleuchten. 

Nur ein Viertel der Kapazität darf belegt werden, das sind knapp 400 Plätze pro Vorstellung. Die erste findet um 16 Uhr statt, das Abendkonzert wird zusätzlich gestreamt. Zur Wiederaufnahme des Spielbetriebs sind nicht alle verkauften Plätze auch belegt, rund 50 Ticketbesitzer haben sich nicht ins Konzert gewagt.

Für Hoensbroech, zuvor Geschäftsführer am Gendarmenmarkt, ist Musik mehr als systemrelevant, er stuft sie als systemimmanent ein, übersprachlich und interkulturell – kurz: wichtiger denn je. Der Dortmunder Konzertsaal sei ein sicherer Ort, wo die Maske am Platz abgelegt werden könne. „Wir haben eine moderne Lüftung mit vertikalen Luftströmen.“ 

Karoline Bestehorn, Geigerin und Mitglied des Orchestervorstands, und ihre Kollegen müssen mit Mundschutz proben.
Karoline Bestehorn, Geigerin und Mitglied des Orchestervorstands, und ihre Kollegen müssen mit Mundschutz proben.
© Markus Werner/Konzerthaus

Dennoch halten einige Zuhörer Nase und Mund auch während der Aufführung bedeckt. Das Konzerthausorchester, ohne Masken, lebt auf, sobald Mirga Gražinyte-Tyla den Auftakt schlägt. „Vorher war ich nervös“, räumt Karoline Bestehorn ein, „und auch schockiert darüber, wie leer der Saal wirkt.“ Doch dann gibt es nur noch die Musik, eine große Ruhe im Publikum – und am Ende stehende Ovationen.

Selbst im Livestream teilt sich die Lust des Konzerthausorchesters mit, wieder vor Menschen spielen zu können. Übertragungen aus leeren Sälen der Corona-Zeit wirkten oft ernst und auch angespannt. Unter Mirga Gražinyte-Tyla erobert sich die Musik ihre Leichtigkeit zurück, wie sie das nur vor Publikum kann.

Trotz der Erschöpfung nach zwei Konzerten, die jeweils ohne Pause gespielt werden müssen, ist Rainer Luft euphorisch. „Am Bühneneingang habe ich mit vielen Menschen gesprochen, die geradezu süchtig danach sind, endlich wieder Musik zu hören.“ 

Auftritt in Berlin nur unter freiem Himmel möglich

Aus Dortmund, wo bis Saisonende noch einige Konzerte vor gelichteten Reihen stattfinden, nimmt er die Hoffnung mit, vor der Sommerpause auch noch in der Berliner Heimat vor Publikum aufzutreten. Das könnte nur open air geschehen, naheliegend auf dem Gendarmenmarkt, liegt jedoch im Ermessen des Bezirksamts Mitte.

Als Orchestervorstand telefoniert Karoline Bestehorn regelmäßig mit Chefdirigent Christoph Eschenbach, der so schnell wie möglich nach Berlin reisen und wieder mit seinem Orchester arbeiten möchte. 

Auch der isländische Pianist Víkingur Ólafsson will seine Saison als Artist in Residence am liebsten mit einem Konzertprojekt abschließen. Im Konzerthaus überlegt man, wie daran so viele Zuhörer wie möglich teilhaben können.

Fest steht, dass Mitglieder des Orchesters bis zum Ferienbeginn in Kleinbesetzungen und mit gebotenem Abstand noch zwölf Schulkonzerte geben. Die neue Spielzeit soll wie geplant am 27. August von Christoph Eschenbach, der Sopranistin Anna Prohaska und dem Konzerthausorchester eröffnet werden. Unklar ist aber, wie viele Musikerinnen und Musiker dann auf der Bühne spielen werden – und wie viele Menschen ihnen im Saal dabei zuhören können.

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