Filmfest München: Klein, böse, Senfstrahl
Charme des Unfertigen: Die deutschsprachigen Premieren auf dem 33. Filmfest München zeigen Figuren von Kleinganoven über afrodeutsche Nationalisten bis zu einem schlecht gelaunten Andy Warhol.
Gibt es etwas Schöneres, als an der kalifornischen Küste über die Wellen zu gleiten? Für die Protagonisten in Andy Warhols letztem Film „San Diego Surf“ schon. Sie stehen am Strand und schimpfen über die Surfer: alle sexuell frustriert. Das für Warhol-Verhältnisse extrem handlungsreiche Werk lebt vom Charme des Unfertigen; Warhol und Paul Morrissey drehten es im Mai 1968 mit zwei Handkameras. „The film was shot in the same year Andy was shot“, spielt der ehemalige „Interview“-Chefredakteur Glenn O’Brien auf das Attentat an, bei dem die radikale Feministin Valerie Solanas den Künstler am 3. Juni 1968 schwer verletzte. Der Film blieb jahrzehntelang unvollendet.
Kleinganoven und Männer auf Reisen
Als ein Höhepunkt des von O’Brien und Katja Eichinger kuratierten „Warholmania“-Schwerpunkts erlebte „San Diego Surf“ auf dem 33. Filmfest München nun seine Europa-Premiere. Neben einer Vorliebe für paillettenschimmernde Galas hegt die erfolgreiche Festivalleiterin Diana Iljine auch bei ihrem vierten Jahrgang ein Faible für das breite American English – selbst wenn dabei Nuancen verloren gehen.
Großen Publikumsandrang erleben in München aber vor allem die 18 deutschsprachigen Kinopremieren. Christoph Gröner hat der Reihe in den letzten Jahren erheblich Auftrieb und Selbstbewusstsein verschafft. So erklärte Franz Müller, der mit „Happy Hour“ über die Irlandreise dreier Mittvierziger eine stimmige Komödie präsentierte, es sei der größte Wunsch seines Teams gewesen, den Film in München vorzustellen. Dasselbe gilt für Markus Sehr und dessen rustikale Kölner Sozial-Tragikomödie „Die Kleinen und die Bösen“. Darin liefert sich der großartige Theaterschauspieler Peter Kurth als Einbrecher auf Bewährung und unfreiwillig in die Pflicht genommener Familienvater ein immer kriminellere Volten schlagendes Duell mit seinem Bewährungshelfer. Ihn spielt Christoph Maria Herbst, mit typischem „Stromberg“-Blick. Ansonsten sah man oft krisengeschüttelten Männern beim Reisen zu: etwa Christian Ulmen als norddeutsch-bräsiger Musiklehrer in der Romanadaption „Becks letzter Sommer“ (Regie: Frieder Wittich).
Flasche wartet im Zimmer auf ihn
„Jetzt zieht sich ein Senfstrahl über den ganzen Axel“, kommentierte Axel Ranisch seinen Wurst-Imbiss auf dem Viktualienmarkt mit der ihm eigenen Lakonie. Mit seinem dritten Film „Alki Alki“ dürfte der Berliner Filmemacher einer der chancenreichsten Anwärter beim Förderpreis Neuer Deutscher Film sein, der am Freitagabend vergeben wurde (nach Redaktionsschluss dieser Seite). Ranischs zärtliches Körper-Kino („Dicke Mädchen“) dreht sich diesmal um den Architekten Tobias, dargestellt von seinem Mitautor und Stammschauspieler Heiko Pinkowski. Der Familienvater verfällt dem Alkohol, wird in ein Sanatorium an der Ostsee eingewiesen, wo er seiner personifizierten Sucht begegnet: „Flasche“ (Peter Trabner als derselbe untersetzte, vollbärtige Phänotyp) weicht nicht von seiner Seite. Als Tobias schließlich glaubt, seinen Alkoholismus im Meer ertränkt zu haben, wartet der triefnass im Klinikzimmer auf ihn.
„Nina Schmidt Duft-Atelier Prenzlauer Berg“, auch lesbar als NSDAP: Den größten Mut in der diesjährigen Auswahl beweist Dietrich Brüggemann mit seiner ätzend komischen Brachialsatire „Heil“ (Filmstart am 16.7.). Er zeichnet verantwortlich für Buch, Regie und Musik – ihm schwebte eine „deutsche“ Mischung aus Marschmusik und Techno vor, wie er sagt.
Afrodeutsche Nazis und die Misere mit den Polit-Talkshows
Während in „Alki, Alki“ alle nett zueinander sind, herrscht in „Heil“ der blanke Darwinismus. Der schneidige Neonazi Sven Stanislawski (Benno Fürmann) aus dem fiktiven ostdeutschen Prittwitz bekämpft den stylishen Hamburger Konkurrenten Heiko Georgi (Jörg Bundschuh), drei mangelhaft koordinierte Verfassungsschützer verwirren sich gegenseitig, und schließlich ringt die hysterische Mediengesellschaft um immer neue Talkshow-Themen. Gern gesehener Gast bei „5 auf 12“ ist der afrodeutsche Integrations-Sachbuchautor Sebastian Klein (Jerry Hoffmann). Er gibt jedoch nur noch nationalistischen Quatsch von sich, seitdem ihm die Prittwitzer Neonazis auf den Kopf geschlagen haben. Jenseits dieser Deftigkeiten entfaltet „Heil“ mit seinen 114 Sprechrollen ein elektrisierend aktuelles Deutschlandpanorama.
In Südtiroler Traumkulisse wiederum siedelt Philip Koch seine beißende Manager-Satire „Outside the Box“ an, in der – wie in „Heil“ – Lavinia Wilson und Hanns Zischler in Nebenrollen glänzen. Mit „Boy 7“ von Özgür Yildirim und dem am Expressionismus orientierten „Der Nachtmahr“ von Akiz wurden mitreißende, wenn auch etwas stereotype Genrefilme über das Schicksal von Jugendlichen vorgestellt. Und im Liebesmelodram „Schau mich nicht so an“ tritt ein wie gekidnappt wirkender Josef Bierbichler auf, der den Film jedoch auch nicht retten kann. „Würdest du bitte wie ein normaler Mensch spielen?“, verriet Festivalliebling Alexander Payne, der mit einer facettenreichen Werkschau geehrt wurde, seine häufigste Regieanweisung. Vor 18 Jahren erhielt er in München den „High Hopes Award“ für sein Erstlingswerk „Citizen Ruth“, damals noch in „Deutschmarks“.
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