Filmfestival: Lügen und andere Wahrheiten
Erotik ja, aber bitte nicht so einfach: Beiträge des neuen deutschen Kinos beim Filmfest München.
Gerade Jahre, schwere Jahre – das ist ein Naturgesetz des Filmfests München. Denn nicht nur Sommer, Sonne und Durst treiben die Menschen in die Biergärten statt ins Kino, sondern es ist der Fußball, der zusätzlich Raum, Zeit und Gespräche dominiert. Natürlich geht dann doch alles zusammen – irgendwie. In der Passage auf dem täglichen Weg zu den City-Kinos wirbt ein Erotikladen, abwechslungshalber verlockend für die Cineasten, mit Plakaten von Münchner Siebziger-Jahre-Sexstreifen für sein eigenes Filmfest. Akkurat erinnern sie an ein anderes Kinoerbe der Stadt. Daneben ziemlich billig, aber sommerlich-leicht: Fan- Dessous in Deutschlandfarben.
Auch das neue deutsche Kino arbeitet sich ab an der Erotik. Billig aber geht hier gar nichts. Ständig schießen die Gedanken quer, spielt die Psyche verrückt, steht der Körper im Weg, dabei könnte doch alles so einfach sein, frei und unverkrampft. In Florian Gottschicks Diplomfilm „Nachthelle“ etwa treffen sich zwei Paare, Mann-Frau (Anna Grisebach, Vladimir Burlakov) und Mann-Mann (Benno Fürmann, Kai Ivo Baulitz), am Ort ihrer Kindheit wieder. Alle verliebt, alles sexy, alles wunderbar. Es könnte das perfekte Sommerwochenende werden. Doch spätestens die Tagebaubagger, die sich Schaufel um Schaufel in Richtung Dorf fressen, deuten großmäulig Richtung Drama.
Hier wird Verschüttetes ausgegraben, werden Grundfesten zerstört, Schicht für Schicht: eine versinnbildlichte Psychoanalyse, die Schuld zutage fördert. Stefan, der einzig Fremde an diesem Ort, erkennt seine Freundin Anna nicht wieder. Sie verhält sich ihm gegenüber fremd, kokettiert, provoziert, ist eifersüchtig. Stefan selbst scheint von dem schwulen Paar angetan. Ein klassisches erotisches Kammerspiel könnte sich daraus entwickeln, doch Gottschick setzt lieber aufs Mystische. Traum und Realität fließen ineinander, ergänzen sich oder erklären sich neu. Zwei Ich-Anteile streiten hier um Deutungshoheit, und ein Trauma kehrt zurück.
Alle verliebt, alles sexy, alles wunderbar - dann kommt das Drama
Ein Psychologe könnte Lynn vielleicht helfen in Ingo Haebs Romanverfilmung „Das Zimmermädchen Lynn“. Doch Lynn (Vicky Krieps, Förderpreis Neues Deutsches Kino für die beste Schauspielerin) macht sich einen Sport daraus, ihren Therapeuten anzuschwindeln. Alles im Leben sei ja Lüge, meint sie. Andererseits hat sie einen Ordnungsfimmel, den sie bei der Arbeit im Hotel nutzbringend anzuwenden weiß. Beinahe verzweifelt sucht sie Struktur, etwa in ihrer Wochenplanung; Hobbys, Interessen und Freunde hat sie keine. Sex ist für Lynn reine Mechanik, um sie selbst geht es dabei nie. Sie ist Zuschauerin in ihrem eigenen Leben – und im Leben anderer, indem sie sich unter die Betten der Hotelgäste legt.
Erklärt wird wenig in diesem Film, dessen wortkarge Einlassungen komplett nachsynchronisiert wurden, was alles noch fremder erscheinen lässt. Als Lynn einen Gast dabei beobachtet, wie er sich von der professionellen Chiara (Lena Lauzenis) piesacken und schlagen lässt, wirkt sie das erste Mal tief bewegt. Sie bestellt Chiara zu sich. Vielleicht könnte sich sogar eine Freundschaft entwickeln, so unschuldig und unsicher, wie man es in dieser Situation käuflicher Hiebe nicht erwartet – und endlich findet das eigene Leben für kurze Zeit nicht im Hotel statt, jenem Ort flüchtiger Begegnungen, der anderswo, in anderen Geschichten auch unverhoffte Chancen bieten könnte.
So also endet der quälende Stillstand im Leben der 18-jährigen Cindy (Julia Jendroßek) in der Tragikomödie „Schönefeld Boulevard“ von Sylke Enders. Schon in ihrem Erfolgsfilm „Kroko“ porträtierte Enders eine Heranwachsende, die es alles andere als leicht hat. Doch anders als Kroko kann Cindy nicht einmal die Femme fatale spielen. Bereits auf den ersten Blick ist sie das hoffnungslose Opfer: zu dick, Ziel von Hänseleien, eine Außenseiterin in Schönefeld – diesem Ort, der wie Cindy selbst auf Erweckung wartet, wenn doch endlich dieser Flughafen fertiggestellt würde. Ausgerechnet die Großbaustelle mit ihren angeschlossenen Hotels bietet Cindy jedoch die Möglichkeit, mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen – auf rührend naive Weise. Zu Beginn mag Cindy noch lächerlich wirken, eine Kandidatin fürs Fremdschämen, am Ende erscheint sie mutiger als viele: eine Figur, die man nur gern haben kann.
Das SEK will Rache, das SEK ist das Gesetz
Die Großstädter um die vierzig dagegen in Vanessa Jopps „Lügen und andere Wahrheiten“ haben bloß Luxusprobleme. Psychologen brauchen sie nicht, man hilft sich selber mit Yoga – oder mit Lügen und Selbstbetrug. Die Zahnärztin Coco (Meret Becker) steht vor der Heirat mit dem Immobilienmakler Carlos (Thomas Heinze). Sein Junggesellenabschied im Bordell läuft derart aus dem Ruder, dass er danach kein Geld mehr für die Ringe hat. Cocos beste Freundin (Jeanette Hain), eine Künstlerin, hat eine sexuell wenig erfüllende Affäre mit ihrem Yoga-Lehrer (Florian David Fitz). Coco weiß davon nichts. Es wird gelogen, verschwiegen und getrickst – hat das Zimmermädchen Lynn also recht? Doch niemand meint es hier böse, jeder hat seine Gründe, und des einen Wahrheit ist sowieso des anderen Lüge und umgekehrt. Unterhaltsam ist „Lügen“ in jeder Minute, aber auch kokett mit seinen ständigen Wendungen, die bloß der Konstruktion des nächsten Schwindels dienen.
Neben all den deutschen Filmen über überwiegend weibliche Befindlichkeiten, Beziehungsprobleme und Selbstbetrug strotzt Philipp Leinemanns düsterer Polizeifilm „Wir waren Könige“ über eine außer Kontrolle geratende SEK-Einheit geradezu vor Testosteron. Zwei Kollegen sind bei einer Drogenrazzia getötet worden. Das SEK (u.a. Ronald Zehrfeld, Misel Maticevic) will Rache, das SEK ist das Gesetz, doch mit seinem fatalen Verständnis von Loyalität und Ehre, seinen explosiven männerbündlerischen Strukturen gleicht es erschreckend jenen Jugendgangs, die das Viertel prägen. Natürlich gibt es kein Gut und Böse, vielleicht gäbe es ein Richtig und Falsch, nur scheint das kaum noch jemand zu erkennen.
Für einen wunderbar rauschhaften Abend nur scheinen dann alle Konflikte vergessen, bevor es weitergeht auf der Straße mit den Hetzjagden und den Prügeleien, ausgelöst durch die nächste Dummheit, das nächste Missverständnis. Leinemanns zweiter Spielfilm ist Milieustudie und Gesellschaftskritik, aber in erster Linie ein hervorragendes, pessimistisches Genrestück, wie man es leider nur selten im deutschen Kino sieht. Den Förderpreis für die beste Regie hat jedoch ein anderer gewonnen – Ralf Westhoff für „Wir sind die Neuen“, eine amüsante Mehrgenerationenkomödie der besonderen Art. Wenn drei alte Junge noch mal Studenten-WG spielen im selben Haus, in dem drei Junge sich in ihrer WG dem Jura-Examen entgegenquälen – wie geht das, und vor allem, geht so was gut? Demnächst in Ihrem Lichtspieltheater.
Karl Hafner
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