Musikfest Berlin: Klangschnipsel und Wortfetzen
Mit zwei ausgedehnten Raumklangkompositionen hat das Musikfest Berlin eröffnet. Wie im anatomischen Theater standen entdeckelte Flügel im Kammermusiksaal.
Genaue Raumerkundungen sind nicht der schlechteste Weg, ein Musikfestival zu eröffnen. Gleich zwei ausgedehnte Raumklangkompositionen hat das Musikfest Berlin zum Auftakt im Kammermusiksaal ausgewählt: „Le temps, mode d’emploi“ für zwei Klaviere und Live-Elektronik von Philippe Manoury sowie Luigi Nonos Klassiker „La lontananza nostalgica utopica futura“ für Solovioline und Tonbänder, der 1988 hier uraufgeführt wurde.
Tatsächlich ist kein Berliner Konzertsaal besser für Raumklangexperimente geeignet als der abgeschottete, raumschiffartige Saal mit dem zentralen Podium und den viele Spielmöglichkeiten eröffnenden Emporen. Wie im anatomischen Theater stehen da die entdeckelten Flügel des GrauSchumacher Piano Duos, Mikrofone nähern sich den Innereien wie Operationsbesteck. Doch die Sektion des Klavierklangs, die das Duo und der anwesende Komponist vornehmen, wird nicht zur Leichenfledderei, sondern zu einer lebendigen und farbigen Operation. Den oft manipulierten, aber nie zur Unkenntlichkeit entstellten Klavierklang, der immer wieder, doch nie penetrant, in den Raum projiziert wird, scannt das Duo virtuos nach Farben ab: tönendes Glas, chinesisches Saitengespinst, Industriestahl.
Differenzierte Klangfantasie
Nach anderthalbstündiger Pause, die zu füllen die Aufenthaltsqualität des Kulturforums nicht ausreicht, der unmittelbare Vergleich: Weniger systematisch konstruiert als von beständigen Brüchen geprägt wirkt Nonos Spätwerk, das Isabelle Faust (Klangregie: André Richard) als Nachtstück mit großer Konzentration und Präzision vorträgt. Fausts Klang bildet einen leicht kühlen Kontrapunkt zu den Tönen, Figurationen, Klangschnipseln und Wortfetzen Gidon Kremers, die das geisterhafte Material der Einspielungen ausmachen. Wirkt die einst innovative Idee, den Solisten wie suchend von Pult zu Pult durch den Saal wandern zu lassen, heute gewollt, erweisen sich Nonos differenzierte Klangfantasie und sein streng modernes Abbrechen von Entwicklungen als Ohrenöffner von eigenem futuristisch- nostalgischem Reiz.