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Daniel Harding dirigiert Rihms "Tutuguri" am 3. September 2016
© Matthias Ahlm

Musikfest Berlin 2016: Vom Triebleben der Töne

Tutuguri trifft Turangalila: Das Musikfest Berlin setzt auch 2016 wieder auf den Mut der Orchester – und wagt ein populäres Experiment.

Richard Strauss und Wolfgang Rihm verbindet einiges: Beide sind Virtuosen der Orchesterbehandlung und Meister sinnlicher Klangfarbenmalerei, beide konnten sich als unglaublich produktive Kreative mit ihrem scheinbar mühelos in alle Genres ausgreifenden Ruvre einen Spitzenplatz unter den Komponisten ihrer Zeit erarbeiten. Und beide haben früh in ihrer Karriere ihre radikalsten Werke herausgebracht: Strauss 1909 seine „Elektra“, Rihm 1982 „Tutuguri“. Als das poème dansé an der Deutschen Oper Berlin uraufgeführt wurde, war der Tonsetzer gerade 30 Jahre alt.

Archaisch in der Anmutung sind beide Stücke, „Elektra“ beschwört die blutrünstige Antike, „Tutuguri“ ist inspiriert vom Ritus der Schwarzen Sonne, den die mexikanischen Tarahumara- Indianer feiern und in dem der französische Theateravantgardist Antonin Artaud die Realisierung seiner dichterischen Visionen erkannte.

Die damalige Tagesspiegel-Tanzkritikerin Hedwig Rohde zeigte sich 1982 tief beeindruckt von dieser Reise in eine fremdartige Welt, die ihr wie ein Pyotl-Drogenrausch erschien: „Eine Perkussion aus Trommeln, Rasseln, indianischen Hackbrettinstrumenten; alles in Stößen anschwellend bis zum Ohrenbetäubenden, donnernd und grell.“ Vor dem Bühnenbild eines Bergs, der sich sowohl zur Stufenpyramide wie zum Vulkan wandeln kann, ließ Choreograf Moses Pendleton Priester mit riesenhaften Masken gravitätisch auf und ab schreiten, während er die Tänzer als faszinierend doppelgeschlechtlichen Wesen in einer neuartigen Bewegungssprache agieren ließ, halb Mensch, halb Naturgeist, bekleidet nur mit hautfarbenen Trikots.

"Tutuguri" gipfelt in einem halbstündigen Perkussion-Marathon

„Meine Musik wurde immer nackter“, hatte Wolfgang Rihm über den Kompositionsprozess gesagt: „Keine Beschönigungen mehr. Musik muss einen anschauen.“ Eruptiv entladen sich darum Klänge, ekstatisch. Zugleich sucht Rihm aber auch immer das andere Extrem, fordert feinstes Pianissimo von der Piccoloflöte, bewegt sich am Rande der Hörbarkeit.

„Tutuguri“ gipfelt schließlich in einem halbstündigen Perkussion-Marathon, bewältigt von einem halben Dutzend Schlagzeugern. „Musik muss voller Emotion sein, die Emotion voller Komplexität“, postulierte Rihm bereits als junger Mann. Diese Feier des Trieblebens der Töne wird am Samstag das Musikfest Berlin offiziell eröffnen. Und die Philharmonie ist der ideale Ort dafür. Weil die Partitur hier zu Klangplastik im Raum werden kann, weil sich die vier von Rihm eingesetzten Tamtams in den entlegendsten Winkeln des Saales positionieren lassen, weil die Stimmen eines über Lautsprecher zugespielten Chores aus höchster Höhe auf das Publikum niedergehen können. Graham F. Valentine, Urgestein aus Christoph Marthalers Theaterfamilie, wird zu Beginn Artauds flamboyante Verse rezitieren.

Szene aus der "Tutuguri"-Uraufführungsproduktion der Deutschen Oper Berlin 1982.
Szene aus der "Tutuguri"-Uraufführungsproduktion der Deutschen Oper Berlin 1982.
© Kranichfoto/Deutsche Oper Berlin

Die Wiederbegegnung mit seinem Frühwerk bei den Salzburger Festspielen war für Wolfgang Rihm 2010 ein erschütterndes Erlebnis. Der Komponist, der heute ganz anders schreibt, sich eher in den Sphären des fein Ziselierten, subtil Raunenden bewegt, erschrak förmlich vor der massiven Kraftentfaltung seiner eigenen Schöpfung. Gerade das aber entflammte die Musiker des BR-Symphonieorchesters. Nach einer Aufführung von „Tutuguri“ vor drei Jahren in München entschieden sie: Mit dem Stück gehen wir auf Tour! Winrich Hopp, der künstlerische Leiter des Musikfests, griff sofort zu. Und tatsächlich erarbeiten die BR-Musiker das zweistündige Werk nun mit dem Dirigenten Daniel Harding exklusiv für Berlin. Die Perkussionisten lassen ihre Schlagzeugbatterie eigens per Truck gen Norden schaffen. Der Abend verspricht also ein Event zu werden, und zwar im ganz ursprünglichen Wortsinn: ein einmaliges, die Anwesenden nachhaltig prägendes Ereignis.

Winrich Hopp, der seit 2006 das Nachfolge-Festival der Berliner Festwochen prägt, ist für seine anspruchsvollen, gedanklich raffiniert miteinander vernetzten Programme bekannt. Unermüdlich wirbt er bei seinen Gästen wie den Berliner Orchestern dafür, sich hier besonders mutig zu präsentieren. Valery Gergiev und die Münchner Philharmoniker kommen darum mit einem Schostakowitsch- Ustwolskaya-Doppel (6.9.), Gustavo Dudamel und sein Simon-Bolivar-Orchester aus Venezuela werden sich in den Sinnenrausch von Messiaens „Turangalila“-Sinfonie stürzen (13.9.). Das Rundfunk-Sinfonieorchester untermalt Sergej Eisensteins monumentales „Iwan der Schreckliche“-Filmepos musikalisch (16.9.), die Berliner Philharmoniker drücken ihrem artist in residence, dem US-Komponisten John Adams, für ein Programm mit eigenen Werken gleich selber den Taktstock in die Hand (ab 15.9.).

Erstmals tritt ein Orchester auf, das Unterhaltungsmusik spielt

Und auch Winrich Hopp selbst hat sich diesmal ein Extra-Experiment verordnet, eine neue Offenheit fürs Populäre. Mit dem John Wilson Orchestra aus London wird erstmals eine Truppe beim Musikfest auftreten, die sich der Unterhaltungsmusik verschrieben hat. Nämlich den Filmmusicals aus der Glanzzeit Hollywoods der 30er bis 50er Jahre. Allerdings – und das passt dann wieder zu Hopps Ansprüchen – auf die denkbar geistreichste Weise. Beim Konzert am Sonntag dürfte authentische BBC-Proms-Atmosphäre in der Philharmonie herrschen.

Neben Wolfgang Rihm, dessen ebenfalls von Artaud inspiriertes „Concerto Séraphim“ am 9. September seine deutsche Erstaufführung durch das Ensemble Intercontemporain erlebt, wird beim Musikfest auch Richard Strauss prominent präsent sein. Mit einer Tondichtung, die eigentlich nur zu seinen Nebenwerken zählt, der „Sinfonia domestica“, in der es um die Darstellung eines harmonischen Familienlebens geht.

Kirill Petrenko kommt mit seinem Münchner Orchester

Dennoch dürfte deren Aufführung am 14. September allerhöchste Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Denn am Pult des Bayerischen Staatsorchesters steht dann Kirill Petrenko, der designierte Nachfolger Simon Rattles bei den Berliner Philharmonikern ab 2019. Es ist der erste Auftritt des derzeitigen Münchner Opern-Musikchefs in der Hauptstadt seit der spektakulären Wahl.

Angesprochen auf die häufige Parallelsetzung seiner eigenen Person mit Richard Strauss sagte Rihm übrigens im Tagesspiegel-Interview anlässlich seines 60. Geburtstags 2012: „Dort, wo er jetzt ist, vergleichen sie ihn ständig mit mir. Er nimmt’s gelassen.“

Das Musikfest startet am Freitag mit einem Präludium und läuft bis zum 20. September. Infos: www.berlinerfestspiele.de

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