Nazi-Äußerung: Lars von Trier bringt Cannes voll auf die Palme
Lars von Trier hat etwas mit Hitler gesagt und wurde daraufhin vom Filmfest in Cannes verbannt. Seitdem gibt es dort kein anderes Thema mehr. Übrig bleibt ein Scherbenhaufen, für den nicht allein der Provokateur verantwortlich ist.
Das Wetter ist so schön wie lange nicht mehr in Cannes. Die Palmen und die Pinien auf der Promenade namens Croisette wiegen sich im sanften Wind vor postkartenblauem Himmel. Die Kiosk- und Café- und Restaurant- und Hotelbesitzer machen gute Geschäfte. Die Staffel der Filmvorführungen beginnt allmorgendlich pünktlich um 8.30 Uhr und endet gegen Mitternacht. Cannes findet also statt, das 64. Filmfest in dem netten Städtchen an der Côte d’Azur. Es zeigt täglich Filme, noch bis Sonntag wird das so gehen. Allerdings spricht über die kaum noch einer.
Stattdessen reden sich diejenigen, die nach Ende des Filmmarkts am Donnerstag und der Abreise von Zehntausenden von Produzenten, Weltvertriebsvertretern, Einkäufern, Verleihern, Kinomachern und PR-Leuten übrig geblieben sind in der nur ein paar Dutzend Gassen umfassenden Festivalzone, nur über eines die Köpfe heiß: die Nazi-Sprüche eines der bedeutendsten Autorenfilmer der Welt und seinen darauffolgenden Ausschluss vom Festival.
Das, was inzwischen durchaus eine Art Skandal ist, fing am Mittwoch an, mit der Pressekonferenz zu von Triers Film „Melancholia“. Aber wer redete noch über dessen bildgewaltige, apokalyptische Vision einer Erde, die verschlungen wird von einem riesigen Planeten? Oder über die vielen anderen neuen Groß- oder Kleinkunstwerke des Kinos? Alles egal.
Und sogar, wer sich noch einlassen wollen würde auf die letzten Wettbewerbsfilme, hat das Gefühl, dem neuen Überthema des Festivals nicht zu entkommen. Der sieht nämlich beispielsweise einen Thriller namens „Drive“, in dem es zwar um Los Angeles geht, gedreht hat den aber Nicolas Winding Refn. Und der ist Däne. Noch ein Däne! Einer wie Lars von Trier also. Oder er sieht die Geschichte von einem Italiener in Irland, Michigan und New Mexico, ein Roadmovie namens „This Must Be The Place“, in dem es dann aber um Depressionen geht und Flugangst und um einen toten jüdischen Vater und einen uralten Nazi irgendwo in Utah. Und das sind bis auf Utah doch Stichwörter, unter denen man auch von Trier finden würde, weshalb man wieder beim Thema ist.
Es war Mittwochmittag in dem engen, fensterlosen, bis auf den letzten Platz gefüllten Pressekonferenzraum in der dritten Etage des fünfstöckigen Gebäudes, das man seit seiner Erbauung in den späten Siebzigern immer noch „Bunker“ nennt. Es gab alberne Witzeleien von Lars von Trier über Pornos, die er demnächst mit seinen Hauptdarstellerinnen Kirsten Dunst und der hochschwangeren Charlotte Gainsbourg drehen will. Dann erkundigte sich eine Journalistin von der Londoner „Times“ nach seinen deutschen Wurzeln und seiner in einem dänischen Filmmagazin bekundeten gewissen Schwäche für Nazi-Ästhetik. Und zwei Minuten später war alles vorbei. Die Stimmung. Die Freude. Irgendwie das Festival, jedenfalls wenn man es – auch – als Fest begreift. Und vielleicht sogar die Karriere des Lars von Trier.
Auf Seite 2: „Ich verstehe Hitler"
„Ich dachte lange, ich wäre ein Jude, und ich war auch glücklich darüber“, so ging es los. Was er nicht sagt: Seine Mutter hatte ihn bis zu seinem 33. Lebensjahr glauben lassen, der dänische Jude Ulf Trier sei sein leiblicher Vater gewesen. „Dann entdeckte ich, dass ich eigentlich ein Nazi war, meine Familie war ja deutsch, das gab mir auch eine Art Vergnügen.“ Ja, so sagte es die Mutter auf dem Sterbebett, der Vater war ein Deutscher. „Ich verstehe Hitler, er machte die falsche Sache, aber ich kann mir ihn im Bunker vorstellen.“ Und nach einem kleinen, erfolglosen Versuch von Hauptdarstellerin Kirsten Dunst, den Regisseur von weiteren Einlassungen abzuhalten: „Ich sympathisiere mit dem Mann, an seinem Ende. Ich bin nicht für den Zweiten Weltkrieg, ich bin nicht gegen die Juden, zwar gegen Susanne Bier“ – eine dänische Kollegin – „halt, das war ein Witz, wie komme ich nur aus dem Satz raus?“ Da lacht Kirsten Dunst, da lachen mehrere der Anwesenden. Und dann kommt das seither meistzitierte Finale: „Okay, ich bin ein Nazi.“
Was folgt, ist ein Sturz, wie ihn dieses Festival noch nie gesehen hat. Am frühen Abend verbreitet die Leitung die erste von zwei eisigen Presseerklärungen. Zu einer Stellungnahme aufgefordert, habe Lars von Trier sich mit dem Hinweis entschuldigt, er habe sich „zu einer Provokation hinreißen lassen“. Die Direktion des Festivals bekräftigt eindringlich, dass „sie niemals zulassen wird, dass die Veranstaltung zur Bühne entsprechender Äußerungen über solche Themen wird“.
Viele Festivalgäste vermuten daraufhin, mit dieser Reaktion auf die peinlichen Entgleisungen des labilen, gerne Grenzen überschreitenden ironischen Provokateurs sei die Sache ausgestanden. Diesmal aber ist es, wie sich am Donnerstagmorgen erweist, eine Grenze zu viel. Der Verwaltungsrat, der aus 14 Vertretern der Politik, darunter des Kulturministeriums, und 14 Vertretern der wichtigsten Brancheninstitutionen besteht, tritt zu einer Sondersitzung zusammen. Später wird die Zeitung „Libération“ darüber schreiben, sie sei keineswegs einvernehmlich, dafür sehr „lebendig und bewegt“ verlaufen. Das Ergebnis ist so klar wie hart – und einzigartig: Lars von Trier wird zur Unperson erklärt und vom Festival ausgeschlossen.
Auf Seite 3: Diese Strafe überstrahlt seither alles
Diese Strafe überstrahlt seither alles. Ausgesprochen für „inakzeptable, nicht zu tolerierende Äußerungen, die im Gegensatz zu den Idealen der Humanität und der Großzügigkeit stehen, die die Existenz des Festivals selbst begründen“, ist sie ein Rauswurf erster Klasse. Formal erfüllt er sich darin, dass Lars von Trier die Akkreditierung entzogen wird und er, sollte „Melancholia“ einen Preis bekommen, diese Auszeichnung nicht mehr persönlich entgegennehmen kann. In der Tiefe bedeutet die nachhallende Trennung vor den Augen der Weltöffentlichkeit etwas nahezu Archaisches: die Verbannung aus einem Heiligtum des Kinos, der Ausschluss aus dem Kreis der Filmgroßmeister, die alljährlich in Cannes ihre Kräfte messen.
Wer so etwas als Betroffener schnell verkraften will, braucht dafür gewiss eine stabilere psychische Konstitution, als Lars von Trier sie nach Cannes mitbrachte. Dennoch gibt er – anders als Charlotte Gainsbourg, die sich aus Gesundheitsgründen entschuldigen lässt – am Donnerstag ungerührt die in einem Luxushotel auf den Hügeln über der Küste für ihn organisierten Gruppeninterviews. Laut „Blickpunkt Film“ bedauert er darin erneut seine Äußerungen und befürchtet berufliche Nachteile, wie sich inzwischen erweist, zu Recht: Ein argentinischer Verleiher bringt „Melancholia“ nicht mehr heraus und Israel geht ebenfalls auf Distanz. Andererseits kokettiert er mit dem Status des Verbannten und versteigt sich erneut: „Ehrlich gesagt, wenn ich Hitler wäre, was ich nun wirklich nicht bin, und ich hätte einen großen Film gemacht, müsste der im Programm von Cannes laufen.“
Da ist es wieder, das H-Wort. Es zerstört nicht nur, wie so häufig, jede vernunftorientierte Debatte, sondern erdrückt jeden anderen wichtigen politischen Zusammenhang, dem ein Festival wie Cannes gewöhnlich Wirkung verleiht. Die Filme der Iraner Jafar Panahi und Mohammad Rasoulof, die trotz Berufsverbots drehten und an die Croisette kamen, sind zu Fußnoten verkommen, ebenso die ausdrückliche Aufmerksamkeit der Organisatoren für das ägyptische und tunesische Filmschaffen. Stattdessen wird in der Wartezeit vor den Spielstätten des Palais und in den umliegenden Cafés darüber spekuliert und diskutiert, ob die massive Intervention des Festivals selber gegen die politischen Entgleisungen Lars von Triers gerechtfertigt oder überzogen war.
Es ist ein Scherbenhaufen, angerichtet vom Filmemacher und in gewisser Weise auch von denen, die ihn rausgeworfen haben. Und wenn es am Sonntag bei der Palmen-Gala noch einmal um die Filme geht, ist nur eine Frage spannend: Bekommt von Trier einen Preis, wenn ja, welchen? Wenn nein, wird die Jury in anderer Weise auf den Eklat eingehen? Und wenn nicht, warum nicht? Ist sie vor dem Bann des Festivals eingeknickt, oder erfüllt sie bloß in aller Gelassenheit notwendig verschwiegen ihre Pflicht, die ihrer Auffassung nach besten Beiträge und Künstler unter den 20 Wettbewerbsfilmen zu küren? Die Antwort weiß nur der Wind, der auffrischen soll am Sonntagabend.