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Mythos an der Mauer: Eine Szene mit David Bowie.
© Illustration: KLeist/Carlsen

Reinhard Kleists „Berliner Mythen“: Killer, Künstler, KaDeWe-Räuber

Mit dem Taxi durch die Stadtgeschichte: Reinhard Kleists Comicserie „Berliner Mythen“ gibt es jetzt auch als Sammelband.

Wer schnappt in Städten die meisten Geschichten auf? Das sind wohl nicht die Journalisten, sondern die Taxifahrer. Ob erfolgreiche oder gescheiterte Geschäfte, Affären oder Trennungen, Weltreisen oder Umzüge – all das beginnt und endet oft im Taxi. Mit jedem neuen Fahrgast fährt die Aussicht auf eine neue Legende mit.

Das dachte sich auch der vielfach ausgezeichnete Berliner Comiczeichner Reinhard Kleist, als er mit „zitty“-Redakteur Lutz Göllner und Carlsen-Lektor Michael Groenewald am Konzept für die zwischen 2013 und 2015 in dem Stadtmagazin publizierte Comicserie „Berliner Mythen“ gesessen hat. „Wir brauchten jemanden, der die Geschichten verbindet“, erinnert sich Lutz Göllner. „Ich hatte die Idee eines Zeitreisenden, aber Reinhards Taxifahrer ist dann doch besser gewesen.“

So wurde der redselige Taxifahrer Ozan zur Hauptfigur der Reihe, die jetzt als Sammelband erschienen ist. Er hat fast immer eine unglaubliche Geschichte zum Zielort seiner Gäste parat. Und wenn das mal nicht der Fall ist, dann bekommt er eine von seinem Fahrgast präsentiert. Ob das dann Wahrheit oder Mythos ist, lässt sich so genau nie sagen.

Kurz vor dem Dritten Weltkrieg

So erfährt man von der Krankenschwester Elisabeth Kursian, die in den fünfziger Jahren zwei Männer umbrachte und diese in Einzelteilen über die ganze Stadt verteilte. Oder von dem amerikanischen Piloten Gail Halvorsen, der als „Onkel Wackelflügel“ in die Berliner Stadtgeschichte einging, weil er das Abwerfen von Schokolade mit einem Wackeln seiner Tragflächen ankündigte.

Zu den „Berliner Mythen“ gehört auch die unglaubliche Geschichte der „Operation Gold“, der von einem Doppelagenten aufgedeckten Spionageaktion der Amerikaner zu Zeiten des Kalten Krieges. „Da kam ich aus dem Kopfschütteln gar nicht mehr raus“, sagt Reinhard Kleist. „Was für ein Kindergarten sich da unter der Erde abgespielt hat und wie nah das Ganze dran war, einen dritten Weltkrieg auszulösen.“

International erfolgreich: Reinhard Kleist.
International erfolgreich: Reinhard Kleist.
© Anja Zwei

Kleist ist einer der besten Zeichner Deutschlands, dessen Comics auch im Ausland auf Begeisterung stoßen. In seiner Vampirsaga „Berlinoir“ hatte er bereits Erfahrungen in der Berliner Legendenbildung sammeln können. Die größte Herausforderung bei den „Berliner Mythen“ habe darin bestanden, „das Wahre mit dem Unterhaltsamen zu verbinden“, sagt er: „Man will ja nicht nur Fakten hubern, sondern den Leser auch einbinden, Spannung erzeugen, witzig sein.“

Aktuell ist auch sein vor gut einem Jahr als Buch veröffentlichter Comic „Der Traum von Olympia“ wieder viel im Gespräch. Darin schildert er das Schicksal der somalischen Sportlerin Samia Yusuf, die als Flüchtling bei der Überfahrt im Mittelmeer ertrank. Für die Rekonstruktion ihrer Geschichte wurde er jüngst auf der Leipziger Buchmesse mehrfach ausgezeichnet und für den Deutschen Kinder- und Jugendliteraturpreis 2016 nominiert.

Auch David Bowie ist dabei

Neben gut dokumentierten Ereignissen haben die Macher der „Berliner Mythen“ auch verdrängte und vergessene Geschehnisse verarbeitet. Denn Berlin sei „eine ziemlich geschichtsvergessene Stadt“, weiß Göllner nach seinen Recherchen zu berichten. Wenig bekannt ist etwa die Geschichte von Johann „Rukeli“ Trollmann. Dem Boxchampion wurden durch den von Nazis durchsetzten Boxverband alle Titel aberkannt, weil er aus der Minderheit der Sinti stammte. Bei einem der makabren Schaukämpfe im KZ Neuengamme wurde Trollmann von einem SS-Schergen erschlagen.

Andere Teile der Comicserie, wie etwa die Fluchtgeschichte der inzwischen verstorbenen Tagesspiegel-Mitarbeiterin Beate A., wurden den Machern zugetragen. Sie handelt von einer Liebe, die keine Grenzen kennt, und steht exemplarisch für die vielen Fluchtgeschichten aus dem geteilten Berlin. Kleist erzählt im Gespräch, dass er oft nach den kleinen persönlichen Geschichten hinter den Fakten gesucht habe. „Ich habe da entdeckt, dass der Weg über das Menschliche manchmal dazu führt, dass man besser versteht, was in der Stadt passiert ist. Was bedeutet zum Beispiel so eine Flucht. Oder was der Kalte Krieg, wenn es um einen Schuljungen geht.“

Gemeinschaftswerk: Das Cover des besprochenen Buches.
Gemeinschaftswerk: Das Cover des besprochenen Buches.
© Carlsen

Als David-Bowie-Fan habe er auch eine Geschichte zur Pop-Legende und die Hansa-Studios machen müssen, erklärt Kleist. „Da ist natürlich ganz viel Legendenbildung dabei, aber das ist ja auch das Schöne dran. Wenn die Legende spannender ist als die Wahrheit, druck die Legende.“ Zweifellos legendär ist die Geschichte des bis heute ungelösten KaDeWe-Raubes von 2009, den Kleist aus der Perspektive der mutmaßlichen Täter und der Ermittler erzählt.

Ende vergangenen Jahres wurde die Serie in der „zitty“ eingestellt, dabei hätte es noch ausreichend Stoff gegeben, wie Lutz Göllner mit Verweis auf angebliche Sexpartys im Jagdschloss Grunewald oder Rucksackatombomben unter dem Flugfeld Tempelhof durchblicken lässt.

Reinhard Kleist: Berliner Mythen. Nach einer Idee von Michael Groenewald und Lutz Göllner. Carlsen Verlag 2016. 96 Seiten, 14,99 Euro.

Zum Blog unseres Autors Thomas Hummitzsch geht es hier: www.intellectures.de.

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