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© Illustration: Kleist/promo

Neue Berliner Comics: Blut wird fließen

Berliner Zeichner ergründen in ihren neuen Büchern alltägliche Abgründe und Vampirwelten. Es geht um Allmachtsphantasien, sexuelles Erwachen und das Leben hinter den Glitzerfassaden.

Vier gelangweilte Jugendliche, ein Revolver, sechs Kugeln – das sind die Zutaten, aus denen der Berliner Autor und Zeichner Ulrich Scheel ein Comic-Drama mit psychologischem Tiefgang entwickelt hat. „Die sechs Schüsse von Philadelphia“ spielt an einem Sommertag des Jahres 1980 in Philadelphia, einem verschlafenen Nest im Berliner Umland. Ein 15-Jähriger und seine Freunde finden eine Militärpistole, Überbleibsel des Zweiten Weltkriegs.

Damit nimmt eine verhängnisvolle, klug inszenierte Handlung ihren Lauf, an deren Ende mehr als nur ein toter Vogel am Boden liegt. Wie der 1976 in Ost-Berlin geborene und an der Kunsthochschule Weißensee ausgebildete Scheel das Drama über 240 Seiten hinweg aufbaut, wie er es schafft, beim Leser Sympathie mit seinen Hauptfiguren zu erzeugen, die doch immer wieder durch deren Stimmungsschwankungen und Kaltblütigkeit erschüttert wird, das ist große Erzähl- und Zeichenkunst.

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Die wollen nur spielen. Ulrich Scheels Hauptfiguren sind vier Jugendliche, aus deren Spiel tödlicher Ernst wird.
© Illustration: Scheel/Promo

Scheels Zeichenstil ist expressiv, er verzichtet auf klassische Comic-Strukturen und Sprechblasen, vermittelt stattdessen mit dynamischen Linien und getuschten Flächen ein Gefühl der Rastlosigkeit und der latenten Bedrohung. Die naive Spielfreude seiner jungen Hauptfiguren kippt immer wieder unvermittelt in tödlichen Ernst um, dazu kommen Allmachtsphantasien, die der Revolver bei den Vieren auslöst. Ein aufbrechendes sexuelles Erwachen trägt zur explosiven Gefühlsmischung bei. Wie Scheel das erzählt, macht sein Buch zu einer der großen Comic-Entdeckungen des Jahres.

Berlin und seinen Bewohnern aufs Maul geschaut

Ein feines Gespür für Charaktere und dem Alltag innewohnende Miniaturdramen hat auch die Zeichnerin Ulli Lust, die Mitte der neunziger Jahre aus Österreich nach Berlin gezogen ist und seitdem den Alltag der Stadtbewohner in genau beobachteten Comicreportagen und Cartoons festhält. Ihre Momentaufnahmen für diverse Stadtmagazine und kleinere Publikationen, jetzt unter dem Titel „Fashionvictims / Trendverächter“ gesammelt erschienen, sind meisterhafte Milieustudien, die ein Gespür für unfreiwillige Komik mit großem Einfühlungsvermögen verbinden.

Lust gelingt es, aus dem Rummel des Berliner Alltags Details herauszuarbeiten, die für ein Sittenbild der späten Neunziger und des frühen 21. Jahrhunderts relevant sind. Tätowierte Kerle in der Kastanienallee, deren Oberarmschmuck dem Blümchenmuster eines vorbeischlurfenden Mütterchens ähnelt; Möchtegernliteraten und Designer bei der Selbstfindung in den Szene-Cafés; verloren wirkende Kunden in den Glitzerkulissen der Shoppingcenter, deren Einsamkeit und Verletzlichkeit durch das Gedröhn der Werbeslogans nur mühsam übertönt wird. Lust hat den Leuten aufs Maul geschaut und Erheiterndes, Banales, Prätentiöses, aber auch manch alltagsphilosopische Erkenntnis gesammelt.

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Alltagskomik. Uli Lust hat die Spezies der Berlinerbeobachtet wie eine Zoologin.
© Illustration: Lust/Promo

Die Zeichnerin hat sich dahin begeben, wo wir alle regelmäßig vorbeikommen, aber selten genauer hingucken. Besonders gelungen sind ihre Ausflüge in die neuen Einkaufszentren, die in den letzten Jahren quer durch die Stadt entstanden sind. Wie Lust deren unhaltbare Glücksversprechen mit den von ihr beobachteten Sehnsüchten und Schwächen der Menschen kontrastiert, das erinnert in den besten Szenen des Buches an den großen gesellschaftskritischen Cartoonisten Sempé.


Mörderischer Showdown der Vampire

Gesellschaftskritik der ganz anderen Art zieht sich durch das große Finale einer epischen Comicerzählung, die der Autor Tobias O. Meissner und der Zeichner Reinhard Kleist vor fünf Jahren begonnen haben und jetzt zu ihrem blutigen Ende bringen. „Narbenstadt“ ist der spektakuläre, an Action und farbenfrohen Bildern reiche Abschluss ihrer Berlinoir-Trilogie. In der dem echten Berlin eng verwandten, retrofuturistischen Blutsaugerstadt regieren nach wie vor die Vampire.

Als es zwischen dem spitzzähnigem Diktator Mardocles und seiner Generalin Radra zum Streit kommt, wie man sich die Menschen am besten zum Untertan macht, wiederholt sich bekannte Stadtgeschichte als Farce: Berlinoir wird getrennt, diesmal in Nord und Süd, eine Mauer wird gebaut, Schießbefehl und tödlich endende Fluchtversuche inklusive. Da entschließt sich der Anführer der Freiheitskämpfer zu einem Verzweiflungsakt, der die menschlichen Bewohner Berlinoirs ein für allemal vom Joch der Vampire befreien soll – ihm aber ewige Verdammnis beschert.

Religionsphilosophische Exkurse, Anspielungen auf Film- und Literaturklassiker sowie ein Strauß an historischen Zitaten aus Weimarer Republik, NS-Zeit oder DDR machen auch den letzten Band der Reihe trotz der manchmal etwas zu bedeutungsschwer inszenierten Gewissenskonflikte der Hauptfiguren zu einem kurzweiligen, vielschichtigen Lesevergnügen. Wie schon in den Vorgänger-Alben hat Vielzeichner Kleist – der kürzlich auch ein gezeichnetes Kuba-Reisetagebuch veröffentlichte – auch für diesen Band opulente, an expressionistische Stummfilme und Science-Fiction-Klassiker wie „Blade Runner“ erinnernde Bilder gefunden und in historisch anmutenden Pastelltönen getuscht.

Vor spektakulär in den Himmel gewachsenen Berliner Bauten wie dem Schöneberger Rathaus oder der Philharmonie kommt es zum Showdown der Vampire und ihrer menschlichen Gegenspieler. Am Schluss sinkt die Alptraumstadt Berlinoir in Trümmer, und daraus entsteht – Berlin.

Ulrich Scheel: Die sechs Schüsse von Philadelphia. 240 Seiten, 19,95 Euro;
Ulli Lust: Fashionvictims, Trendverächter. 128 Seiten, 17,95 Euro. Beide im Avant-Verlag, Berlin, erschienen;
Reinhard Kleist/Tobias O. Meissner: Narbenstadt, 48 Seiten, 12,50 Euro. Edition 52, Wuppertal

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