Potenzial des Ethnolekts: Kiezdeutsch ist mehr als "Isch geh’ Aldi"
In so genannten sozialen Brennpunkten wie Wedding und Neukölln sei die deutsche Sprache kaputt, beklagen viele - doch der "Ethnolekt" kann auch eine raffinierte Hybridform aus mehreren Sprachen sein. Ein Code, den man erst verstehen muss, um Potenziale für Stadtkultur und -wirtschaft entfalten zu können.
Achtung, liebe Leserinnen und Leser, auch wenn Sie nur Deutsch sprechen, lesen Sie bitte trotzdem weiter:
"Roh l Supermarkt, schri Tomaten wa Kartoffeln"
"Auto-ha, sehr schön!"
"Fühle mich huzursuz"
"Geh in den Supermarkt und kaufe Tomaten und Kartoffeln", sagt die libanesische Mama zu ihrem Sohn beim Lidl auf der Hermannstraße in Neukölln. Ein marokkanischer Student bewundert das neue Auto seiner Schwester, ihr Wagen sei sehr schön. Und der Dichter Murat Güver fühlt sich unbehaglich.
Ich kann leider (noch) nicht das türkisch geprägte Kiezdeutsch entziffern, die Mechanismen scheinen aber ähnlich wie im arabischen "Ethnolekt" und in anderen Sprachmischungen zu sein, in denen verschiedene Vokabulare und grammatikalische Strukturen zu neuen, stets fluiden Ausdrucksformen verschmelzen.
Wenn es um diese neuen Formen der Sprache geht, handelt es sich nicht nur um zunächst fremde Mundarten. So wie die emphatische und gewollt veränderte Aussprache des "ch" in "isch", "sisch" oder "misch". "Ethnolekt" begrenzt sich auch nicht nur auf die Reduktion der deutschen Sprache und den Verzicht auf Artikel und Präpositionen. Im Kiez geschieht etwas soziologisch und sprachwissenschaftlich Kompliziertes: Neue Sprachformen werden kreiert und das mit viel "Hirnschmalz", wie es im Kiez heißt.
Nichts Neues, Alta!
Hybridität in Sprache und kultureller Praxis ist nichts Neues. Wer sich über "Habe Schere in Schublade gelegt" oder "Isch geh’ Aldi" aufregt, trinkt eigentlich Kalten Kaffee. In der postkolonialen Sprach- und Kulturanalyse sind hybride Sprachformen seit Jahrhunderten bekannt. So zählt Kreol, das auf Haiti gesprochen wird, zu den besten Beispielen wie mehrere Sprachen zu einer raffinierten Codierung vernetzt werden können.
Weiße Farmer und Großgrundbesitzer auf Haiti hatten ab dem 17. Jahrhundert versucht, ihre Sklaven aus verschiedenen Sprachkreisen zusammenzustellen. So wollten sie verhindern, dass die Zwangsarbeiter untereinander kommunizieren und gegen ihre Unterdrückung revoltieren. Es hat nicht funktioniert. Denn dabei ist eine hybride Sprache entstanden, die in erster Linie die Sklavenhalter exkludierte. Was in eine Revolution und die Unabhängigkeit Haitis mündete. Angeführt von ehemaligen Sklaven, die keinen Zugang zu herkömmlicher Schulbildung hatten.
Wie du sprechen nicht sauba Deutsch?
In den Reaktionen auf ein auf dieser Seite kürzlich veröffentlichtes Interview zum Thema, ist die Entfremdung vieler Leser und Leserinnen gegenüber dieser Sprachentwicklung in Deutschland zu spüren. Zwar verteidigen einige das Kiezdeutsch als normale Entwicklung der aktuellen Jugendkultur in Großstädten, eine Mehrheit der Kommentatoren macht sich aber lustig über den Mischmasch, der in einigen Berliner Bezirken und anderen deutschen Städten mittlerweile gesprochen wird. Arbeitgeber und Firmenbesitzer melden sich zu Wort: Sie würden nie jemanden mit einem starken Soziolekt einstellen.
Viel Potenzial für Kültür und so, vallah!
Da unter Menschen mit verschiedenen sprachlichen Hintergründen auch eine hohe Bereitschaft an Flexibilität herrscht, ist der Weg zum - wie es oft heißt - "sauberen Deutsch" nicht mehr weit. Denn der deutsche Arbeitsmarkt ist meist exklusiv Deutschsprachig, was bedeutet: Hast du Akzent, hast du Problem auf Arbeitsmarkt. Sprichst du gänzlich anders, sind die Chancen noch geringer. Natürlich macht es wenig Sinn, jemanden mit einem starken Soziolekt in ein Callcenter zu setzen. Allerdings wissen die betroffenen jungen Leute auch, dass sie je nach Arbeitgeber ihre Sprache anpassen müssen. Die meisten können, wenn sie wollen, auch "sauberes Deutsch" sprechen.
Die Anpassung von Menschen ohne Migrationshintergrund an Sprache, die in Neukölln, Wedding oder Kreuzberg gesprochen wird, beobachten Experten seit Jahren. Sie schlagen aber keinesfalls Alarm, sondern versuchen Konstruktiv damit umzugehen. Die Mischung verschiedener Sprachen birgt durchaus auch kulturelles Kapital. Der Code der Jugendlichen scheint so faszinierend zu sein, dass sich mittlerweile auch Deutschlehrer am "Ethnolekt" versuchen.
In finanzschwachen und so genannten bildungsfernen Milieus zeigt das Wechseln zwischen zwei oder sogar mehreren Sprachen, dass die Person dementsprechend multilingual unterwegs ist. Die monolinguale Mehrheit in Deutschland kann da nur schwer mithalten. Aus dem Prestige könnte aus rein kapitalistischen Motiven aber auch Umsatz generiert werden.
Dabei sind die Kiezdeutsch-Sprechenden selbst ein interessanter Markt. Kiezdeutsch eröffnet aber auch ein neues Fenster zu internationalen Märkten. Da steckt Potenzial, das man nutzen könnte ganz im Sinne von Management und Vermarktung. Mit einer an urbanen Verhältnissen angepassten Schulpädagogik könnte man die häusliche Muttersprache, das saubere Schuldeutsch und hybride Formen miteinander versöhnen. Die entsprechenden Sprachlogiken sind in den Köpfen der Kidz verankert.