Sprache: "Wir sind Görlitzer Park"
Von wegen fehlerhaft: Kiezdeutsch - das gebrochene Deutsch, das junge Menschen aus sozialen Brennpunkten oft sprechen - ist ein Dialekt mit eigenen Regeln, sagen Forscher.
Der hilfsbereite Herr im Anzug muss nicht lange überlegen: „Da müssen Sie Alexanderplatz umsteigen“, empfiehlt er der jungen Dame, die ihn auf dem U-Bahnsteig nach dem Weg gefragt hat. Was er nicht weiß: Die junge Dame ist Studentin und testet sein Deutsch. Und, für ihn vielleicht noch schlimmer: Was er da gesagt hat, unterscheidet sich aus linguistischer Sicht nicht von der Ausdrucksweise junger Deutschtürken, wenn sie sagen: „Wir sind Görlitzer Park“ oder „Die sind alle Schule“.
Die deutsche Standardsprache hält die Möglichkeit bereit, Ortsangaben auch ohne die eigentlich erforderlichen Präpositionen wie „am“ oder „im“ zu bilden. Die meisten Deutschen nutzen diese Möglichkeit nur, wenn sie von U-Bahnhöfen sprechen. Junge Migranten und Deutsche, die in sozialen Brennpunkten aufwachsen, lassen die Präpositionen bei Ortsangaben dagegen grundsätzlich weg. Heike Wiese, Professorin an der Universität Potsdam, nennt diese Sprache „Kiezdeutsch“: nicht einfach ein gebrochenes, fehlerhaftes Deutsch, sondern eine neue Varietät des Deutschen, eine Art Dialekt mit eigenen Regeln.
Heike Wiese präsentierte ihre Forschungen zum Kiezdeutsch im ehrwürdigen Gebäude der Akademie der Wissenschaften vor einem ungewöhnlichen Publikum: Neben gesetzteren Damen und Herren saßen im Leibniz-Saal auch sehr viele Schüler und vielleicht sogar authentische Kiezdeutsch-Sprecher. Die Union der Deutschen Akademien der Wissenschaften hatte zum „Akademientag“ geladen – und diese Veranstaltung, die bereits zum dritten Mal stattfindet, richtet sich an ein breites Publikum. „In den Netzen der Sprache“ lautete das übergreifende Thema des Tages: denn Sprache wird an den acht bundesdeutschen Akademien, die sich in der Union zusammengeschlossen haben, in vielfältigen Projekten erforscht. Das Spektrum reicht von der Sprache der Tiere und den Ursprüngen der menschlichen Sprache über Langzeit-Editionsprojekte und die Erforschung moderner deutscher Regionalsprachen bis hin zur Gebärdensprache, für die die Hamburger Akademie ein Wörterbuch erstellt.
Rund 2000 Interessierte kamen im Laufe des Nachmittags in die Jägerstraße, um Vorträge über „Chatsprache“ oder den „Sitz der Sprache im Gehirn“, Workshops und Ausstellungen zu besuchen. Nicht immer klappte der Kontakt von Wissenschaft und Jugend auf Anhieb: Helmut Henne, stets strahlender Emeritus, der seit Jahrzehnten über Jugendsprache forscht, forderte die Jugendlichen auf, ihm neue coole Ausdrücke zu nennen – und keiner wollte öffentlich einen sagen. Immerhin: Beim Thema „Rap“ ließ sich ein Junge erweichen und rappte am roten Mikro etwas vor.
Heike Wieses Vortrag über Kiezdeutsch stieß bei den Zuhörern auf großes Interesse. Die Linguistin spricht bewusst nicht von „Türkendeutsch“ oder „Kanaksprak“, denn es sind nicht nur junge Deutschtürken, die so sprechen. „Kiezdeutsch entwickelt sich im Kontakt von Jugendlichen mit unterschiedlichem Migrationshintergrund und deutschen Jugendlichen.“ Es sei „die Sprache, die wir hier im Kiez sprechen“, wie die Jugendlichen selbst sagen. Wer dort Hochdeutsch spricht, gilt als arrogant.
Die Standardsprache sei durch Kiezdeutsch nicht bedroht, sagte Wiese. Im Idealfall sei ein Kiezdeutsch-Sprecher in der Lage umzuschalten und, etwa in der Schule oder in der Ausbildung, auch Hochdeutsch zu sprechen. Auf diese Fähigkeit zum Umschalten kommt es letztlich an. Denn so sehr sich die Linguisten auch bemühen, dem Kiezdeutschen Regeln abzuhorchen und es zur respektablen „Varietät“ aufzuwerten, eins ist klar: Wer nur Kiezdeutsch kann, der kommt nicht weit.