„Wind River“ im Kino: Kampf zwischen Wildnis und Zivilisation
Perspektivlosigkeit, Armut, Kriminalität: Taylor Sheridans Western-Thriller „Wind River“ über einen Mordfall in den eisigen Bergen von Wyoming.
Kalt ist es in den schneebedeckten Bergen von Wyoming. Wer hier lebt, muss schon einen guten Grund haben. Zum Beispiel einen lukrativen Job auf einer Ölbohranlage. Oder er zieht die Natur der Behaglichkeit menschlicher Gesellschaft vor, wie der Jäger Cory Lambert (Jeremy Renner), der im Auftrag einer Naturschutzbehörde den vereinzelten Menschen Wölfe und Pumas vom Leib hält. Doch die Mehrheit der Bevölkerung lebt hier einzig und allein aus dem Grund, dass ihre Vorfahren vor 150 Jahren zwangsumgesiedelt wurden.
Wind River heißt das Reservat, in dem Angehörige der Shoshone und Arapaho seither den lebenswidrigen Bedingungen trotzen. Schon die eisige Luft zu atmen, kann hier tödlich sein. Wie für die 18-jährige Natalie, auf deren Leiche Cory bei der Jagd stößt. Sie war barfuß durch den Schnee gerannt, bis ihre Lungenbläschen platzten und sie an ihrem Blut ertrank.
Die Gerichtsbarkeit der teilautonomen Reservate sieht vor, dass die notorisch unterbesetzte Stammespolizei bei Mordfällen vom FBI unterstützt wird. Aus Las Vegas wird die Agentin Jane Banner (Elizabeth Olsen) gesandt, die zwar selbstbewusst und ehrgeizig, aber auf die klimatischen und kulturellen Herausforderungen der Gegend nicht vorbereitet ist. Sie bittet daher den versierten Fährtenleser Cory um Hilfe bei den Ermittlungen.
Der Staat hat versagt, sein Recht durchzusetzen
Die Geschichte von Regisseur und Drehbuchautor Taylor Sheridan klingt selbst fast wie ein Hollywoodfilm: Nach Jahren als Fernsehschauspieler war er von der Formelhaftigkeit der Seriendramaturgien dermaßen frustriert, dass er in kurzer Zeit drei Drehbücher verfasste, von denen zwei umgehend verfilmt wurden: Denis Villeneuves Kartell-Thriller „Sicario“ (2015) und das Outlaw-Drama „Hell or High Water“ (2017) von David Mackenzie. Bei „Wind River“ führte Sheridan nun selbst Regie.
Die Filme bilden ein faszinierendes Gesamtwerk, weil sie sich dank der Regisseure (aus drei verschiedenen Ländern) in Ton und Tempo stark unterscheiden und sich dabei thematisch doch ähneln. Sheridan bezeichnet sie als „Frontier Trilogy“, mit Bezug auf die bewegliche Siedlungs- und Erschließungsgrenze im 19. Jahrhundert. Es ist der Gründungsmythos des modernen Amerika, den Sheridan in seinen Filmen hinterfragt: Welche Auswirkungen hatte die Besiedlung auf die Gegenwart? Welche unsichtbaren Grenzen verlaufen heute durch Land und Gesellschaft? Die Filme suggerieren zumindest, dass der Kampf zwischen Wildnis und Zivilisation noch nicht entschieden ist.
Die „Frontier“ ist eine klassische Domäne des Western, und obwohl alle drei Filme in der Gegenwart spielen, muten sie tatsächlich archaisch an. Sie zieht sich entlang von failed states. Der Staat hat versagt, sein Recht durchzusetzen. Wer überleben will, muss eigene Regeln aufstellen. „Gut“ und „böse“ ist eher eine Frage der Perspektive denn der Moral.
Es sind die prekären politisch, wirtschaftlich und filmisch vernachlässigten Regionen, für die sich Sheridan interessiert. Seine Drehbücher sind an ihren Schauplätzen so fest verankert, dass sich die Geschichten wie von selbst aus den dortigen Lebensverhältnissen ergibt. Auch in „Wind River“ ist die Landschaft Attraktion, Antagonist und Antriebsfeder zugleich, sie bietet atemberaubende Bergpanoramen, verleitet die Menschen aber auch zu verzweifelten Taten.
Sheridan verzichtet auf konstruierte Twists
Die Bewohner des Reservats leiden unter mehr als lediglich der Kälte und der Abgeschiedenheit. Es ist das Gefühl, dass ihnen die Politik und der Rest des Landes den Rücken zugedreht haben. Arbeitslosigkeit, Drogenkonsum und Kriminalität liegen ein Vielfaches über dem Landesdurchschnitt, das reiche kulturelle Erbe ist auf der Strecke geblieben. Von Generation zu Generation weitergegeben werden nur die Perspektivlosigkeit und Armut – wie eine Erbkrankheit .
Kein einfaches Umfeld für einen Einsatz. Jane, bestens trainiert, aber ohne berufliche Erfahrung, stößt zunächst auf Ablehnung. „Siehst du, was sie uns schicken?“, fragt Ben (Graham Greene), der Chef der Reservatspolizei, als die Polizistin ohne Winterausrüstung aus ihrem SUV steigt. Er hat die Vernachlässigung der Bundesbehörde verinnerlicht, während Jane deren Ausmaß allmählich begreift. Als Mittler fungiert Cory, der mit einer Arapaho verheiratet war und persönliche Gründe hat, die Ermittlungen zu unterstützen.
Auf den Vorwurf, dass sein Film Hollywoods rassistische Konventionen erfülle, indem er eine Geschichte über eine ethnische Minderheit anhand weißer Protagonisten erzähle, entgegnet Sheridan, dass dies nun einmal seiner eigenen Perspektive entspricht. Aufgewachsen auf einer Ranch in Texas, hat er in seinen Zwanzigern einige Zeit in einem Reservat in South Dakota verbracht. Weil ihm so wichtig war, dass der Film im Detail akkurat und im Ganzen respektvoll werden würde, habe er sich entschlossen, selbst Regie zu führen.
In „Wind River“ verzichtet Sheridan auf die extreme Intensität und die konstruierten Twists, die seine anderen Drehbücher auszeichnen, stattdessen lässt er den Protagonisten und ihren Konflikten mehr Raum zur Entfaltung. So gelingt ihm ein realistischer Einblick, der dem letzten Teil seiner „Frontier Trilogy“ auch eine aktuelle Relevanz verleiht.
In 12 Berliner Kinos; OV: Cinestar Sony Center, OmU: b-ware, Central, Delphi Lux, Eiszeit, Filmrauschpalast, Kulturbrauerei, Moviemento, Tilsiter-Lichtspiele, Off
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