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Die Schauspielerin Sandra Hüller, 38
© imago/ZUMA Press

Eine Begegnung mit Sandra Hüller: Jenseits des Spiegels

Sandra Hüller ist zurzeit die beste Schauspielerin ihrer Generation. In "Toni Erdmann" spielt sie die Unternehmensberaterin Ines. Eine Begegnung.

Es ist ein Geheimnis um sie, und dabei wird es wohl bleiben. Möglich, dass sie später, wenn ihre kleine Tochter erwachsen ist, wenn die eine oder andere Ehrung ihrer Arbeit hinzugekommen sein wird, die Skepsis gegenüber den Deutungs- und Annäherungsversuchen der anderen verliert. Einfach, weil das Vergehen der Jahre, weil die Zeit eine Freundin von Sandra Hüller ist.

Wäre es anders, sie könnte nicht spielen, wie sie spielt, so vollkommen unerschrocken und mutig. Als Zuschauer will man sich ihr wie einer Anführerin ausliefern. Sie soll in den aufregenden, gefährlichen Gegenden vorangehen. Sie soll einem zeigen, wie es ist, wach zu sein.

Sandra Hüller ist im Augenblick im Kino zu bewundern, in Maren Ades schon in Cannes gefeierter Tragikomödie „Toni Erdmann“. Sie ist Ines, eine ehrgeizige, intelligente und äußerst angespannte Tochter, eine Karrierefrau in der Welt der Unternehmensberatungen. Peter Simonischek ist der Vater, ein Mann mit Hund und Fantasie, ein Botschafter der Wahrheit und Groteske.

"In Berlin war ich die ganze Zeit einsam"

Die beiden liefern sich einen epischen Kampf. Um Liebe geht es darin, um Rettung vor dem Kältetod, und es fällt einem das Märchen vom Froschkönig ein, jener unsterbliche Moment, in dem die drei eisernen Bänder vom Herzen des alten Heinrich springen.

In elegantes Blau gekleidet, tritt sie ein. Sehr herzlich, konzentriert nach wer weiß wie vielen Interviews. Beweglich, schnell. Das ist der erste Eindruck. In einem Satz kann sie von der Ungeduld ins Zärtliche, von der Kühle ins Innige laufen, und wenn es sein muss, sofort wieder zurück.

Sie sieht viel, ohne das ständig zu thematisieren. Ein emphatisches Kind sei sie gewesen, sagt die 38-Jährige. Eines, das den anderen gern beim Handeln zugesehen habe und über das Wie und Warum ins Grübeln kam. Sie habe Fragen gestellt und ein paar Sachen umstandslos gewusst. „Wie jemand sich fühlt, das habe ich immer verstanden.“

Auch jetzt weiß sie es. Sie ist höflich, von großer Sinnlichkeit und Klarheit. Sich zu wehren, ist für sie trotzdem eine Variante. Es ist völlig absurd, daran zu denken, Sandra Hüller auf die Familie anzusprechen, auf Freunde und das Leben, das sie neuerdings wieder in Leipzig führt, wo sie vor einer halben Ewigkeit nach ihrem Studium an der Berliner Hochschule Ernst Busch schon einmal zum Ensemble des Schauspiels gehörte, bevor sie nach Basel weiterzog.

Die Rolle der Ines war ihre bislang komplizierteste

Wenn man selbst etwas von sich erzählt, gibt sie allerdings auf der Stelle etwas zurück. Wie um fair zu bleiben. Ihr sei es genau anders herum ergangen, sagt sie zum Beispiel. „In München war ich nie einsam, in Berlin die ganze Zeit.“ Sie beschützt, das trifft es besser als zu sagen, dass sie sich selber schützt. Wer sich „oft im Gedanken- und Gefühlsraum anderer Leute aufhält“, wie sie es nennt, weiß um die feinen Linien der Diskretion. Sie erzählt, dass sie neulich ihre kleine Tochter mit ins Theater brachte, und dass sie das auf keinen Fall wiederholen werde. Die Energien seien unverträglich. Die Anwesenheit des eigenen Kindes im Raum der Arbeit, „das ging mir zu nah“.

Es ist ein beiläufiger Satz. Das Klagen, die Wehleidigkeit hält sie nicht aus. „Selbst bei meinem Kind fällt es mir schwer“, sagt sie. „Eine Situation akzeptiert man, man verändert oder verlässt sie.“ Und: „Jammern gehört nicht dazu.“ Auch ihre Figuren halten sich an die Maxime. Mögen sie auch zugrunde gehen wie Michaela, die Protagonistin von Hans-Christian Schmids Provinzdrama „Requiem“. Sie hat epileptische Anfälle, aber die anderen denken, sie sei vom Teufel besessen. Es kann auch passieren, dass Ines in „Toni Erdmann“ beim Blick auf den ins Taxi steigenden Vater in ein kurzes Schluchzen ausbricht.

Oder Martha in „Über uns das All“, die erfahren muss, dass ihr Mann sich das Leben genommen hat, oder die Ärztin in „Brownian Movement“, die gern Sex mit hässlichen Männern hat: Niemals werden diese Frauen sentimental oder feige. Sie kämpfen, verhandeln, befreien oder verstricken sich, sie tanzen, sie singen sich die Seele aus dem Hals und lassen wie Ines einen Kollegen auf eine Praline wichsen, nicht ohne zuvor versprochen zu haben, das Petit Four danach zu verzehren.

Ihre Devise: einfach hingehen und alles geben

Die Rolle der Ines, ihr Verhältnis zum Vater, das sei das Komplizierteste gewesen, was sie bisher gespielt habe, sagt Sandra Hüller. Das Vokabular der Unternehmensberater, die abschätzigen Gesten, die schnell kalkulierenden Blicke und das Drittklassige der Karriereangst, all das war von weither zu suchen. „Haben Sie Ines gemocht?“ – „Am Ende schon, ja!“

Vermutlich ist das die am wenigsten wichtige Frage für jemanden wie Sandra Hüller. Wer verstehen will, der kann sich nicht auf Sympathien und magische Verwandlung verlassen. Nein, sie hat nicht das Gefühl, vor der Kamera oder auf der Bühne eine andere zu werden. „Sehr gruselig“ wäre ihr das. „Schauspielen“, sagt sie, „hängt, wie die Meditation, eher mit einer Konzentration und Bündelung von Zeit und Energie zusammen.“ Alles, was man ausspricht oder tut, wird existenziell und bedeutsam. „So extrem, wie es im echten Leben nur selten vorkommt.“

Augenblicke jenseits des Spiegels. Das interessiert sie. Die Leute denken nicht mehr über ihr Aussehen nach, wenn sie etwas erleben. Wenn es wichtig wird, vergisst man die eigene Wirkung. Es verletze sie fast, so die Verehrerin der Dramen von Heinrich von Kleist, wenn sie erkenne, dass jemand beim Spielen sein Bild kontrollieren will. Sie ist zu gut erzogen, um über ihre Kraft zu sprechen. Ob ihr selber klar sei, wie weit sie in ihren Darstellungen geht? „Nein.“ Ob sie wisse, dass ihr Spiel an das von Isabelle Huppert erinnere? Sie dankt betreten, will sofort weg. Komplimente bergen die Gefahr des Missverstehens. Selbst der Titel „ Künstlerin“ ist heikel. Ihr Ohr hört jeden schiefen Ton. Arbeit. Das klingt besser. Geradliniger. Normaler. In einem Interview hat sie einmal von ihrem Wunsch gesprochen, sich weder emotional noch sonst irgendwie „aufbrezeln“ zu müssen. Einfach hingehen und alles geben. Dann können die unglaublichsten Dinge geschehen.

2006 gewann sie den Silbernen Bären

Wie bei der Arbeit mit dem Theater- und Opernregisseur Johan Simons, „wo man das Gefühl hat, der Gedanke jedes Einzelnen im Publikum verbinde sich mit dem Gedanken jedes Einzelnen auf der Bühne“. Sandra Hüller lächelt, und wie so oft, baut sie Formulierungen der Vorsicht ein, Spielanleitungen gegen das Behaupten. Sie könne es gar nicht richtig beschreiben, nur, dass „wir in diesem Raum alle etwas miteinander teilen“.

Erstaunlich, dass die meisten Zuschauer das im Theater gar nicht wissen, sagt sie, „dass sie gesehen, gehört, gespürt werden“. Sie nehme sie doch alle wahr. Im Kino sei es anders. Der Kontakt reißt ab, und sie muss ihre Figur zurücklassen.

Nach „Requiem“ hat sie das verstanden, nach dem Silbernen Bären in Berlin 2006 und dem massiven Einbruch der Öffentlichkeit in ihr Leben. Drei Tage ging sie im schneebedeckten Wald ihrer Thüringer Heimat spazieren. In einer Landschaft, die ihr nah und wichtig ist. In ihrer Erinnerung war sie in diesem Wald ein ängstliches Kind. Jetzt, beim Laufen, fing das Bild an, sich selbst zu korrigieren. „Ich merkte, dass ich überhaupt keine Angst hatte“, sagt sie. Nicht in diesem Wald, und, so möchte man hinzufügen, auch in anderen Seelenlandschaften nicht.

„Toni Erdmann“ mit Sandra Hüller läuft in 13 Berliner Kinos.

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