Kunst im Dritten Reich: Ist Ernst Barlach ein zweiter Fall Nolde?
Eine neue Biografie beleuchtet die widersprüchliche Haltung des Bildhauers, der am Donnerstag 150 Jahre geworden wäre, zum Nationalsozialismus.
Im Frühjahr 1933, schon bald nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten vom 30. Januar, bekam Ernst Barlach, einer der am meisten gefeierten, am meisten angefeindeten Bildhauer der Weimarer Republik, zu spüren, dass für ihn und seine Kunst andere, härtere Zeiten angebrochen waren.
Sein Ehrenmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs hatte gleich, nachdem es am Totensonntag 1929 im Magdeburger Dom aufgestellt worden war, für Aufruhr in rechtsradikalen und völkischen Kreisen gesorgt. Auch die Deutschen Christen, die in Hitler einen Erlöser sahen, protestierten scharf. Barlachs Holzskulptur zeigte nicht Helden, nur Überlebende.
Sechs Soldaten, schlotternd in zu große Uniformen gehüllt, haben sich um ein Kreuz versammelt, im Vordergrund scheinen drei knochige Gestalten bereits ins Totenreich hinabzusinken. Menschenmaterial im Vernichtungskrieg. Die Kritiker sahen darin „Rassefremdheit“ und Bolschewismus, einen „Kultus mit dem Untermenschentume“, der den „Typ des deutschen Arbeiters“ verfälsche.
1933 zieht sich Barlach nach Güstrow zurück
Nun haben die Hetzer gesiegt. Im März 1933 beantragt der Kirchenrat der Domgemeinde die Entfernung des Ehrenmals. Die Skulptur wird abgebaut und in der Berliner Nationalgalerie magaziniert. Der mit Barlach befreundete Kunsthändler Bernhard A. Böhmer bewahrt die einst im Staatsauftrag entstandene Figurengruppe vor der Zerstörung, indem er sie für 1000 Reichsmark freikauft. Böhmer ist, ähnlich wie sein Kollege Hildebrand Gurlitt, eine zwielichtige Figur. Die Geschäfte mit den Nationalsozialisten werden ihn zum Millionär machen.
„Mein Kahn sinkt jetzt rapide“, schreibt Barlach, der sich schon lange vor dem Lärm der Welt ins mecklenburgische Güstrow zurückgezogen hat. Nun sei er auf alles gefasst, „auch auf das Schlimmste“. Entwürfe für Ehrenmale in Stralsund und Malchin zieht Barlach zurück. Sein Kieler „Geistkämpfer“ – ein Engel mit Schwert steht auf einem Raubtier, als wolle er es besänftigen –, wird 1937 für „entartet“ befunden und demontiert. Genauso ergeht es dem Relief am Hamburger Ehrenmal, das eine trauernde Mutter mit Kind zeigt und seit 1931 auf dem Rathausmarkt steht. Es verschwindet 1938.
Der „Schwebende Engel“ ist sein berühmtestes Werk
Akut bedroht ist auch das bis heute berühmteste Werk des Bildhauers, sein „Schwebender Engel“, 1927 zur 700-Jahr-Feier des Güstrower Doms geschaffen. Aufgehängt im Kirchengewölbe scheint die Bronzefigur von aller Erdenschwere befreit durch die Lüfte zu gleiten. Das Gesicht mit den geschlossenen Augen trägt die Züge der Malerin Käthe Kollwitz, die mit Barlach befreundet war.
„Der Schwebende“ (Siedler, München 2019, 431 Seiten, 28 €), so lautet auch der Untertitel der Biographie, die der Berliner Schriftsteller Gunnar Decker jetzt zum 150. Geburtstag des Künstlers veröffentlicht hat. Treffend bezeichnet die Metapher das Dilemma eines Mannes, der schwer zu fassen ist. Weil er laviert und sich nicht festlegen will, gerade in der Zeit des Nationalsozialismus. „Wo steht Barlach?“, auf diese wiederkehrende Frage kann das Buch keine eindeutige Antwort geben. Barlach, am 2. Januar 1870 in Wedel geboren, ist fest verwurzelt in der norddeutschen Landschaft. Emigrieren will er nicht. Als die Diffamierungen zunehmen, droht er, „mit Krach und Eklat“ aus der Berliner Akademie auszutreten. Aber er bleibt.
Der Bildhauer flirtet kurz mit dem NS-Studentenbund
Können Kunstwerke widerständiger sein als der Künstler, der sie schuf? Handelt es sich bei Barlachs Kompromissen um einen zweiten Fall Nolde? Eine Zeit lang flirtet Barlach mit dem NS-Studentenbund, der ihm im Sommer 1933 die Präsidentschaft im neugegründeten „Ring deutscher Künstler“ anträgt. Wenige Wochen zuvor haben dieselben Studenten die Bücherverbrennung auf dem Berliner Opernplatz organisiert, bei der sie Werke von Heinrich Mann, Bertolt Brecht, Ödön von Horvath und Vicki Baum ins Feuer warfen.
Alles Kollegen des Bildhauers mit Doppeltalent, der während der Weimarer Republik Dramen wie „Der blaue Boll“ auf die Bühne brachte. Dem Motto „gegen französisches Ästhetentum – für bodenständige deutsche Kunst“, scheint Barlach nicht abgeneigt zu sein, wie er in einem Brief äußert. Seit einem Studienaufenthalt an der Académie Julian 1895/95 verachtet er die Hervorbringungen der Pariser Bohème. Nach einigem Zögern lehnt er das Angebot ab, mit Hinweis auf seinen „Kampf als Künstler“, der sich „in der Stille einer freiwilligen Zurückgezogenheit“ abzuspielen habe.
Mitten im Kulturkampf zwischen den rechten Machtzentren
Wie Emil Nolde gerät Ernst Barlach mitten hinein in einen Kulturkampf zwischen divergierenden NS-Machtzentren. Propagandaminister Goebbels, der zwei Arbeiten von Barlach besitzen soll, unterstützt die Studenten, die den „nordischen Expressionismus“ zur nationalsozialistischen Staatskunst machen wollen. Die Gegenseite wird vom NS-Chefideologen Alfred Rosenberg angeführt, der für ein rückwärtsgewandtes, an „Blut und Boden“ orientiertes Kunstideal eintritt und in der Parteizeitung „Völkischer Beobachter“ Barlach persönlich attackiert. Entschieden wird der Streit von Hitler, der im September 1934 auf dem Nürnberger Reichsparteitag die modernen Künstler als „Traditionsverderber“ und „Scharlatane“ verdammt.
Da lag Barlachs moralische Bankrotterklärung einen Monat zurück. Im August 1934 unterschreibt er einen von Goebbels verfassten „Aufruf der Kulturschaffenden“. Am Vorabend einer Volksabstimmung wirbt das Manifest dafür, Hitler als Nachfolger des verstorbenen Staatsoberhaupts Hindenburg zu bestätigen, ihn also endgültig zum „Führer“ zu machen. „Wir glauben an diesen Führer, der unseren heißen Wunsch nach Eintracht erfüllt hat“, heißt es im Dokument, das im „Völkischen Beobachter“ erscheint.
Seine Plastiken landen in der Ausstellung "Entartete Kunst"
Zu den 37 Unterzeichnern gehören Wilhelm Furtwängler, Erich Heckel, Georg Kolbe und Ludwig Mies van der Rohe. Zuvor war Barlach in mehreren Anrufen von einem Ministerialrat des Propagandaministeriums bearbeitet worden. Auch nach den Mordaktionen während des angeblichen „Röhm-Putsches“ glaubt Barlach vielleicht immer noch, dass sich vermeintliche Reformkräfte des Regimes durchsetzen würden. Oder er erhofft sich von der Unterwerfung ein Ende seiner Drangsalierung. Darin wird er enttäuscht. Staatsaufträge bekommt er nicht, stattdessen werden einige seiner Arbeiten – die Plastik „Das Wiedersehen“ und eine Serie von Zeichnungen – 1937 in der Münchener Feme-Ausstellung „Entartete Kunst“ präsentiert.
Auch Emil Nolde traf das Verdikt „entartet“, trotzdem bot er sich dem Regime an. Gunnar Decker verweist im Gespräch vor allem auf die Unterschiede. Anders als Nolde war Barlach kein Mitglied der NSDAP. Er war auch kein Antisemit, es gab von ihm auch keinen Plan zur „Entjudung“ der deutschen Kunst. Einen solchen Entwurf hatte der Maler, wie sich bei den Recherchen zur Berliner Ausstellung über die „deutsche Legende Nolde“ zeigte, Hitler persönlich zukommen lassen. Und während Nolde noch 1940 mit seinen Gemälden die astronomische Summe von 80 000 Reichsmark erwirtschafte, verarmte der von öffentlichen Aufträgen abgeschnittene Barlach.
Das Ideal eines Kommunismus des hochstehenden Menschentums
Der Erste Weltkrieg hatte den Bildhauer zum Pazifisten gemacht, sein Ideal, sagte er, sei ein „Kommunismus des hochstehenden Menschentums“. Wo bei ihm Haltung endete und Opportunismus – oder schlimmer noch: Verrat – begann, bleibe „unauflösbar“, so Decker. Für den Biografen ist Barlach, ein Wort Wolf Biermanns zitierend, „so unschuldig schuldig, wie man nur sein kann“. In seinem Buch, der ersten umfassenden Würdigung seit mehr als 30 Jahren, beschreibt er den Künstler als „Alleingänger“, der sich mit mittelalterlicher Mystik beschäftigte und im Expressionismus schon deshalb ein Außenseiter blieb, weil er nicht mit Farben arbeitete und die Formen zwar brach, aber auch wieder zusammenführte.
In den letzten Jahren vor seinem Tod 1938 wurde der Eigenbrötler immer sonderlicher. Durch Güstrow, wo er überall Spitzel wähnte, bewegte er sich nur noch im Taxi. Manchmal schoss er nachts aus dem Fenster seines Hauses in den nahegelegenen Wald.
Barlachs „Schwebender Engel“ wurde 1937 aus dem Güstrower Dom entfernt und im Rahmen der Propaganda-Aktion „Metallspende des deutschen Volkes“ eingeschmolzen. Weil das Gipsmodell gerettet wurde, konnte er nachgegossen werden. Heute hängt der Bronzeflieger, eine Mischung aus Himmels- und Erdenwesen, wieder im Kirchenschiff. Er strebt nicht empor, stürzt nicht ab. Mit geschlossenen Augen hält er Kurs auf seiner eigenen Umlaufbahn.
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