Mariana Lekys Dorfroman „Was man von hier aus sehen kann“: Irgendwo im Westerwald
Wahrsagende Okapis und schrullige Dorfbewohner: Mariana Lekys warmherziger Roman „Was man von hier aus sehen kann“ über das Leben in der Provinz.
Immer wenn Selma von einem Okapi träumt, stirbt jemand in dem verwunschenen kleinen Dorf ohne Namen, irgendwo im Westerwald. Selma, Luises Großmutter, sieht aus wie Rudi Carrell, und manchmal träumt Selma. Im Traum sieht sie dann sich selbst im Blümchennachthemd auf einer Wiese am Waldrand stehen, und dann erscheint es, dieses seltsame Tier – und bringt nichts Gutes.
Mit allerlei Okapis im Gefolge nimmt die 1973 in Köln geborene Schriftstellerin Mariana Leky in ihrem dritten Roman „Was man von hier aus sehen kann“ die Provinz in den Blick und macht sie zur Kulisse für liebenswerte, verschrobene Charaktere mit einer Vorliebe für Übersinnliches. Zum Beispiel ist da der Optiker, der Luise wie eine Tochter liebt und von Stimmen gequält wird, die ihn unerbittlich an die größten Fehler seines Lebens erinnern. Oder Martin, Luises bester Freund mit der abstehenden Haarsträhne, der jeden Morgen im Regionalzug auf dem Weg zur Schule auswendig aufsagt, was draußen vor dem Zugfenster vorbeirauscht: Feld, Wald, Wiese, Weide. Mit geschlossenen Augen natürlich. Oder die mürrische Marlies, die, stets in gräulich-verwaschener Unterhose und ausgeleiertem Norweger-Pulli, nur selten das Haus verlässt. Dann Friedhelm, der jahraus, jahrein „Oh, du schöner Westerwald“ singend durchs Dorf tänzelt. Oder die abergläubische Elsbeth, die sich beim Efeu entschuldigt, wenn sie es zurückschneidet, weil sie glaubt, es trage einen verzauberten Menschen in sich.
Intensiver Blick durch stetige Wiederholungen
Es sind dies alles Figuren, die sich rührend umeinander sorgen und nie verzagen, trotz aller Unbill. Denn Unglück macht auch vor Lekys magisch-realistischem Dorf in der mitteldeutschen Provinz nicht halt. Selmas Okapi-Orakel scheint sich zu erfüllen. In klarer, prägnanter Sprache und mit feinem Humor schildert Leky, wie die Dorfbewohner angesichts des drohenden Todes Hilfe bei Elsbeth suchen, die gegen alles ein Hausmittel kennt: „Das halbe Dorf war mit hochgeschlagenem Mantelkragen durch Elsbeths Gartenpforte gegangen, es hatte sich dabei mehrfach umgeschaut, so wie die Männer in der Kreisstadt sich mit hochgeschlagenem Mantelkragen umschauten, wenn sie die Tür zu Gabys Erotikstübchen öffneten.“ Widerwillig überwinden sich die besorgten Dorfbewohner, lange gehütete Geheimnisse auszusprechen, was einige von ihnen, nachdem sie dem Tod noch einmal von der Schippe gesprungen sind, bitter bereuen. Und auch unerfüllte Lieben und schmerzhafte Sehnsüchte belasten sie. Luises Vater kommt mit Hilfe seines Psychiaters auf die Idee, seinen Kummer auszulagern – und zwar auf einen riesengroßen, regengrauen Hund namens Alaska.
Durch stete Wiederholungen bekommt Mariana Leky den dörflichen Alltag intensiv in den Blick, zum Beispiel wenn Selma jeden Dienstagnachmittag gewissenhaft und geräuschvoll ihr Garagentor ins Schloss wirft, um das Reh zu verscheuchen, damit es nicht vom Jäger Palm niedergestreckt wird. Tiere wie dieses Reh, wie Alaska, der Hund, und eben auch die Okapis tauchen hier leitmotivisch immer wieder auf und verbinden so die drei Teile dieses letztendlich allumfassend niedlichen Romans.
Leky begleitet die Entwicklung ihrer Figuren über mehrere Jahrzehnte und arbeitet mit Rückblicken und Zeitsprüngen. Mehr als zwanzig Jahre zwischen 1983 und dem Beginn des neuen Jahrtausends umfasst die erzählte Zeit. Im ersten Teil ist die zur Allwissenheit neigende Icherzählerin Luise zehn Jahre alt, im zweiten Anfang zwanzig und im letzten Teil um die dreißig. Doch politische oder historische Ereignisse spielen ansonsten keine Rolle. Das märchenhafte Dorf ohne Namen scheint von der Außenwelt abgeschnitten zu sein.
Eskapistisch anmutende Rührseligkeit
Mariana Leky ist nach ihrem Debüt „Erste Hilfe“ von 2004 und dem Nachfolger „Die Herrenausstatterin“ nicht die erste Schriftstellerin, die das Leben auf dem Land – vielleicht aus einer Sehnsucht nach dem Überschaubaren, Bodenständigen heraus? – literarisch verarbeitet. Auch Saša Stanišic ließ seinen 2014 veröffentlichten und mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichneten Roman „Vor dem Fest“ in einem fiktiven Dorf in der Uckermark spielen, in Fürstenfelde. Er porträtierte wie Leky eine Reihe skurriler Dorfbewohner. Und Juli Zeh zeichnete in „Unterleuten“ (2016) wiederum ein sehr realistisches Bild einer zur Hälfte aus Berliner Zuzüglern bestehenden Brandenburger Dorfgemeinschaft, die über den geplanten Bau eines Windparks in erbitterten Streit gerät. Erfolgreich waren und sind diese Bücher alle. Marina Leky steht seit Monaten mit „Was man von hier aus sehen kann“ in der „Spiegel“-Bestsellerliste.
Was sicher an der Mischung aus Humor, Warmherzigkeit und einer gewissen, eskapistisch anmutenden Rührseligkeit dieses Romans liegt. Wie ein geschützter Raum wirkt er, ein Raum, in dem die böse, globalisierte Welt nichts zu suchen hat. Nur Luises Vater verlässt für einige Zeit die heile Welt der heimatlichen Gefilde und geht auf Reisen. „Ihr müsst mehr Welt hereinlassen!“, fordert er die Dorfbewohner immer mal wieder auf. Doch Mariana Lekys Anliegen war das nicht – und wer an wahrsagende Okapis glaubt, der bleibt sowieso lieber zu Hause.
Mariana Leky: Was man von hier aus sehen kann. Roman. Dumont Verlag, Köln 201314 Seiten, 20 €.
Stefanie Borowsky
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