Sasa Stanisics Roman „Vor dem Fest“: Die wertvollste Gabe ist die Erfindung
In seinem neuen, gerade mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichneten Roman "Vor dem Fest" erzählt der Schriftsteller Saša Stanišić in der "Wir"-Perspektive vom Leben im fiktiven uckermärkischen Dorf Fürstenfelde. Aber natürlich ist dieses Buch viel mehr als ein Landlebenroman.
Womöglich gehört es zum Wesen des Schriftstellers Saša Stanišić, immer ein wenig erstaunt zu sein, verwundert, verblüfft. Ganz unbefangen kann er sich noch darüber freuen, überhaupt Schriftsteller zu sein, Bücher zu schreiben und zu veröffentlichen. Vor allem aber glaubt man ihm diese Freude und die Verwunderung darüber, dass so viele Menschen seinen neuen Roman „Vor dem Fest“ mögen. Das war am vergangenen Dienstag bei seiner Buchpremiere in der Berliner Akademie der Künste so, als er sich mehrmals und eben staunend für den langen Applaus nach seiner Lesung bedankte. Und das ist natürlich auch am Donnerstagnachmittag in Leipzig so gewesen, als „Vor dem Fest“ mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde und Stanisic bei seiner Danksagung erstmal kaum ein Wort herausbekam, weil er damit, wie er sagte, überhaupt nicht gerechnet hatte.
Auch das glaubte man ihm – wenn gleich „Vor dem Fest“ aufgrund seiner herausragenden Qualitäten schon im Vorfeld der Verleihung hoch gehandelt wurde und die Auszeichnung keine Überraschung darstellt. Der Roman erzählt von einer Freitagnacht in dem uckermärkischen Dörfchen Fürstenfelde, das es nicht gibt, aber stark dem realen brandenburgischen Ort Fürstenwerder in der Nähe von Prenzlau ähnelt. Es ist die Nacht vor dem so genannten Annenfest, das die Bewohner des Ortes jedes Jahr feiern, ohne eigentlich zu wissen warum: „Was wir feiern, weiß niemand so recht. Nichts jährt sich, nichts endet oder hat genau an diesem Tag begonnen. Die Heilige Anna ist irgendwann im Sommer, und die Heiligen sind uns heilig nicht mehr. Vielleicht feiern wir einfach, dass es das gibt: Fürstenfelde. Und was wir uns davon erzählen.“
Und das machen sie dann ausgiebig, die Bewohner des Ortes: von diesem zu erzählen und auch von sich. Anna, genau!, die zum Studieren nach Rostock geht und nun noch einmal laufend das Dorf und seine Umgebung durchqueren will. Der ehemalige NVA-Mann Schramm, der nicht weiß, ob er sich nun gleich umbringen oder das langsam mit Zigaretten tun und diese erstmal holen gehen soll. Die fast 90-jährige Malerin Frau Kranz, die in dieser Nacht am See ein Bild für die traditionelle Festauktion malen will. Die jungen Lada, Suzi und Johann, die gern beim Ulli in seiner Garage einen trinken. Die Dorfchronistin - und „Haus-der-Heimat-Leiterin“ Johanna Schwermuth, deren Namen auch für die sie zeitweise überfallende Krankheit steht. Herr Gölow, der Schweinezüchter, und noch so einige Figuren mehr.
Das Schwierigste sei es für ihn gewesen, einen Erzähler für das Buch zu finden, sagt Saša Stanišić: „Ich hatte eine Fülle von Stimmen, ich hatte das Dorf als Körper, aber ich hatte keinen Erzähler“. Und auch mit dem Dorf war es zunächst nicht so einfach. Schon früh sei ihm nach seinem 2006 erschienenen Debüt- und Jugoslawienkriegsroman „Wie der Soldat das Grammofon reparierte“ klar gewesen, so der 1978 im bosnischen Višegrad geborene Stanišić, für seinen neuen Roman „etwas Abgegrenztes, einen ganz kleinen Kosmos“ haben zu wollen. „Ich bin von einer jugoslawischen Landschaft ausgegangen, mir schwebte auch das Banat vor, etwas mit zwei Seen, Wäldern. Und dann sagte eine Freundin von mir, ich kenne da genau so ein Dorf mitsamt umgebender Landschaft, wie Du es Dir vorstellst, in der Uckermark.“
Das war vor vier Jahren, und dann dauerte es eben, bis die richtige Erzählperspektive gefunden war, auf die ihn schlussendlich der Schriftstellerkollege und Freund Tilman Rammstedt hinweis: Das Wir, gewissermaßen der kollektive „Wir“-Erzähler, der alle Figuren einschließt, ihnen ihre Eigenheiten lässt (und dabei durchaus einmal ein „Ich“ oder den personalen Erzähler zu Wort kommen lässt), sie aber auch von der Umgebung abgrenzt. Wer versteht schon, wie es hier bei „uns“ auf dem Land zugeht? „Wir sind traurig“, so hebt der Roman an, weil der Fährmann des Dorfes tot ist („Zwei Seen. Kein Fährmann“), er ertrank im See. Diese Traurigkeit wird noch mehrmals betont, aber schon bald heißt es auch, wegen des Festes: „Wir sind traurig, wir sind froh, richten wir, richten wir es an.“
So richtig traurig aber fühlt sich in diesem Roman nichts an, trotz der Landflucht und der Verlassenheit, trotz der mitunter traurigen Schicksale der Dorfbewohner, trotz unseligster DDR-Vergangenheit, trotz der Depressionen von Frau Schwermuth. Das liegt an der Komik der Ereignisse, die Stanišić den Einwohnern in der Nacht, aber auch in ihrem früheren Leben widerfahren lässt. Dabei macht er seine Figuren nicht lächerlich, sondern sympathisiert mit ihnen bis zum Ende, da sie ihr Fest endlich feiern. Das Erzählprinzip kennt man schon aus Stanišić‘ Debüt „Wie der Soldat das Grammofon reparierte“, der zwar nicht zuletzt von den Schreckens des jugoslawischen Bürgerkriegs erzählt, diesen aber nie das Roman-Regiment übernehmen lässt: „Die wertvollste Gabe ist die Erfindung, der größte Reichtum die Phantasie“, erzählt hier der Großvater seinem Enkel, dem Erzähler: „Merk dir das, und denk dir Welt schöner aus.“
Daran hält sich Stanišić auch mit „Vor dem Fest“, das zudem von der Welt Fürstenfeldes in den Jahrhunderten zuvor erzählt; alte, überlieferte, aber auch erfundene Geschichten aus dem 16., 17., 18. oder 19. Jahrhundert sind das, deren Sprache Stanisic zeitgemäß nachahmt: „Im Jar 1587 um Ostern trug sich zu, daß deß Müllers Sau allhier beym Pranger am Tiefen See ein Wunderferkel gebar….“
Es ist die Dorfchronistin, die viele dieser mitunter schrecklichen, mitunter skurrilen Geschichten sich ausdenkt. In der Mitte des Romans stellt sich das heraus, als ein zum Teil handschriftliches Manuskript eingefügt ist über einen Kesselflicker, der einen Ring findet, mit dem er sich unsichtbar machen kann. Da sind Fragen wie „Wer schreibt die alten Geschichten? Wer errichtet dem Schrecken ein Denkmal? (…) Wer verrät uns, was wir wissen?“ nur rhetorischer Natur: Das Dorf, wir, Frau Schwermuth, Saša Stanišić.
Immer wieder ist man bei der Lektüre überrascht, auf wie vielen Ebenen dieser Roman angesiedelt ist, formaler, sprachlicher und inhaltlicher Art. „Vor dem Fest“ ist natürlich nicht einfach nur ein Uckermark-Dorfroman sondern zeigt, was Literatur alles kann. Die Überleitungen der Kapitel sind stimmig, durch die Zeiten hindurch, es ist, als würden sich Vergangenheit und Gegenwart hier aufs Schönste spiegeln. Die Sprache der Dorfbewohner, des kollektiven Wirs ist eine artifizielle, und doch wirkt sie schön umgangssprachlich, lässt sie, zum Beispiel unter der Verwendung falscher Dative, den Leser im Glauben, die sprechen in Fürstenfelde wirklich so. Dann ist da noch die Fähe, die immer wieder auftaucht, die das gewissermaßen überzeitliche Prinzip verkörpert, die Ewigkeit, mit all ihren Sinnen: „Sie ahnt Eis, das die Erde horizontlang zu tragen hatte.“ In dieser Nacht will sie ihren beiden Jungen, die schon bald weg sein werden, ein letztes Mal eine schöne Mahlzeit bescheren, ihnen Eier aus einem Hühnerstall besorgen. Das geht schief, wie sich im Verlauf dieser vielleicht allerschönsten, poetischsten Passagen des Romans herausstellt.
Und schließlich, am Ende, lässt Stanišić Bild in Bild übergehen: das der alten Malerin, das in der Nacht nicht wirklich was geworden ist, das nur, na klar, Dunkel- und Grautöne hat; und das eigene Schlussbild, das der Bewohner, die bei ihrem Fest stehen, „bis zum Knie im Tiefen See und rühren sich nicht“. Dieses Bild, auf dem alle noch einmal drauf sind, ist perfekt, es ist farbig - so wie dieser Roman, dessen Perfektion aber nie den vielen Geschichten, der Fabulierlust von Saša Stanišić im Weg steht. Dazu passt, dass Stanišić in Leipzig bei seiner kurzen Danksagung doch noch was einfiel: Ein Ei habe er an diesem Tag geschenkt bekommen, als Glücksbringer gewissermaßen, und er hoffe mal, dass dieses Ei von einem Huhn aus der Uckermark gelegt worden sei.
Saša Stanišić: Vor dem Fest. Roman. Luchterhand Verlag, München 2014. 316 Seiten, 19, 99 €.
Gerrit Bartels