Poesiefestival Berlin: Irgendwann Liebe
Ben Lerner macht sich in seinem Essay "Warum hassen wir Lyrik?" an die Ehrenrettung der Dichtkunst. Ein Ausblick auf das 17. Poesiefestival Berlin.
Es muss nicht immer Hass sein. Mit Gleichgültigkeit und Verachtung ist die abendländische Dichtkunst schon genug gestraft. Wenn aber von Hass die Rede ist, wie es der New Yorker Lyriker und Erzähler Ben Lerner in seinem Essay „Warum hassen wir die Lyrik?“ tut (in der Übersetzung von Nikolaus Stingl soeben als E-Book bei Rowohlt Rotation für 2,99 € erschienen), dann ist es nicht nur derjenige, der ihm in Form von aus Ahnungslosigkeit genährtem Unverständnis entgegenschlägt. Es ist auch derjenige, der ihn an seine eigene Profession fesselt.
„The Hatred of Poetry“ erzählt von einer Erziehung des poetischen Gefühls, in der die Zwietracht von Anfang an zu Hause ist. Schon als Neuntklässler in Topeka, Kansas, nahm sich Lerner mit Marianne Moores im Laufe eines lebenslangen Revisionskampfes auf drei Zeilen heruntergekürzten Gedichts „Dichtung“ einen Text zum Auswendiglernen vor, der mit dem verräterischen Bekenntnis eröffnet: „Ich mag sie auch nicht.“ Moore bekommt dann, absichtlich ungelenk, gerade noch einmal die Kurve: „Liest man sie jedoch mit vollkommener Verachtung für sie, entdeckt man in / ihr am Ende doch einen Ort für das Echte.“
Mit einer Ehrenrettung der Poesie durch eine „Ehrenrettung ihrer Denunzierung“ hält es auch Lerner, dem „die Dialektik eines Berufs, der zwar unmöglich, deswegen aber nicht weniger unentbehrlich ist“, in Fleisch und Blut übergegangen ist. Im Namen aller Lyrikhasser – „ich gehöre selbst zu ihnen“ – appelliert er daran, die Verachtung zu vervollkommnen und sie sogar auf Gedichte zu richten, „wo sie sich nicht vertiefen und verflüchtigen wird, und wo sie, indem sie einen Platz für Möglichkeit und vorhandenes Nichtvorhandenes schafft, irgendwann vielleicht Liebe ähnelt“.
Keine andere Kunst hadert so sehr mit sich wie die Lyrik
Ben Lerner geriet wie viele junge Dichter schnell in ein Spannungsfeld von Ablehnung und Rechtfertigung, das die Debatten über Sinn und Aufgabe von Lyrik bis heute prägt. Es gibt keine andere Kunst, die so sehr mit sich hadern würde und daraus einen entscheidenden Teil ihrer Kraft bezieht. Gerade einige der Größten haben immer wieder Plädoyers für die Notwendigkeit der Dichtung gehalten: der irische Nobelpreisträger Seamus Heaney in seinen Oxforder Vorlesungen „The Redress of Poetry“, der polnische Lyriker Adam Zagajewski in seinen Essays „Verteidigung der Leidenschaft“ oder jüngst Michael Krüger in seiner Münchner Rede „Das Ungeplante zulassen – Eine Verteidigung des Poetischen“.
Einst, nachdem Lerner Platons „Staat“ gelesen hatte, jenen – hochgradig dichterischen – Dialog, der die nachahmende Kunst der Dichter aus dem idealen Staatswesen verbannen will, sah er sich schon als künftigen Revolutionär: Wer der Poesie eine derart schädliche Wirkung nachsage, glaubte er, verhelfe ihr automatisch zu einer politischen Rolle.
Der Gedichte-Hass rückt die Lyrik auf negative Weise ins Ideal
„Warum hassen wir die Lyrik?“ schlägt den Bogen zurück zu Philipp Sidneys 1595 erschienener „Defence of Poesy“, befleißigt sich aber einer Volte, die noch jenseits der elisabethanischen Welt lag: „ ,Dichtung‘ ist ein Wort für eine Art von Wert, den kein bestimmtes Gedicht realisieren kann – den Wert von Menschen, den Wert eines menschlichen Tuns jenseits der Scheidung von Arbeit und Müßiggang, ein Wert vor oder jenseits aller Bezifferung. Gedichte zu hassen kann daher entweder eine Art sein, auf negative Weise Lyrik als Ideal auszudrücken (...), oder aber eine wütende Abwehr der bloßen Andeutung, dass eine andere Welt, ein anderer Wertmaßstab möglich ist.“ Das Ideal liegt dabei in einer Transzendenz, die, einmal festgehalten, doch immer wieder im Irdischen steckenbleiben muss.
Man kann darin die Spuren von Percy Bysshe Shelleys 1821 in Anlehnung an Sidney verfasster „Defence of Poetry“ entdecken, die noch vor wenigen Jahren den Philosophen Richard Rorty dazu brachte, mit ihrer Hilfe die Alleinherrschaft der Vernunft infrage zu stellen. „Niemals“, so der Romantiker Shelley, „ist die Pflege der Poesie mehr zu wünschen als in Zeiten, da durch die übermäßige Ausbildung des selbstsüchtigen und berechnenden Prinzips die Anhäufung der Güter des äußeren Lebens das Maß der Fähigkeit übersteigt, diese den inneren Gesetzen der menschlichen Natur anzuverwandeln. Der Körper ist dann zu schwerfällig für die belebende Seele geworden.“
In Abu Dhabi gibt es eine Dichter-Castingshow
Lyrikhass ist indes ein westliches Problem. Der Hyperkapitalismus in der arabischen und asiatischen Welt mag die Wirkmacht der Poesie bedrohen. Als Kunst, die dem Volk gehört, genießt sie einen unangefochtenen Rang. Ein Beispiel ist die Casting-Show „Million’s Poet“ aus Abu Dhabi, die nach dem Muster von „American Idol“ oder „Deutschland sucht den Superstar“ die besten in der mündlichen Nabati-Tradition stehenden Rezitatoren und Rezitatorinnen auszeichnet. Vor wenigen Tagen siegte dieses Jahr der kuwaitische Student Rajih al-Hamidani und trug umgerechnet 1,36 Millionen Dollar nach Hause. Die Parallelshow „Prince of Poets“ prämiert den Vortrag klassischer arabischer Lyrik.
Was aber ist das für ein Publikum, das von Freitag an neun Tage lang das Berliner Poesiefestival frequentiert? Sind es Lyrikhasser in Lerners Sinn, die Gedichtbände sonst nur mit der Kneifzange anfassen und sich im Bad der Klänge und Formen kurieren lassen wollen? Sind es die Möchtegerndichter, von denen Lerner als Redakteur einer winzigen Zeitschrift ein Lied zu singen wusste?
In der "Weltklang"-Nacht gibt es Konzeptkunst und Spoken Word-Performances
Die pure Bestätigung, gedruckt zu werden, schien ihnen oftmals als Ausweis ihrer Menschlichkeit zu genügen – erkennbar an dem verzweifelten Satz: „Ich weiß nicht, wie viel Zeit mir noch bleibt.“ Oder sind es die wahren Anhänger einer Kunst, die auch in der eigenen Kultur so diversifiziert ist, dass von der Lyrik niemand zu sprechen wagen sollte? Es sind wohl von allen ein paar – und noch viel mehr. Eine bunte Mischung in einem Kraut-und-Rüben-Programm, das schon zum Auftakt mit „Weltklang“ die sprachexperimentelle Konzeptkunst von Caroline Bergvall mit der Spoken-Word-Tradition des Senegalesen Souleymane Diamanka konfrontiert und Charles Simics Nachtstücke mit Gerhard Falkners Sprachschichtkollisionen.
Er hat in seinen Aufzeichnungen „Über den Unwert des Gedichts“ (1993) einst eine ganz ähnliche Strategie wie Lerner verfolgt: die Aufwertung des Poetischen durch seine Wertlosigkeit für die zahllosen „Einsatz- und Bereitschaftssprachen“, die im Dienst reiner Botschaftsübermittlung stehen: „In dem Maße, wie wir auf das Innen Verzicht leisten, um dem Außen uneingeschränkt verfügbar zu sein, verliert die dichterische Sprache ihre Lebensgrundlage und Gültigkeit. Die Versuche der Dichter, sich aufs Äußerliche zu verlegen, untergraben das einzigartige Motiv poetischer Sprache, Spannungsumwandler zwischen Innen und Außen zu sein (sein zu wollen) und den inneren Resonanzraum um seine nicht-diskursive Dimension wachsen zu lassen.“
Das 17. Poesiefestival Berlin (3. - 11. Juni) beginnt am Freitag um 19 Uhr mit Weltklang, Tickets 10/7 €, mehr unter www.literaturwerkstatt.org
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