Interview mit Adam Zagajewski: Über die Spaltung der polnischen Gesellschaft
Im Interview spricht der Dichter und Essayist Adam Zagajewski darüber, wie die nationalkonservative Regierung das Land gestohlen und die Atmosphäre vergiftet hat.
Adam Zagajewski, 1945 im heute ukrainischen Lemberg geboren und im oberschlesischen Gleiwitz aufgewachsen, gehört zu den bedeutendsten Lyrikern der Gegenwart – nicht nur Polens. Neben seinen Gedichten, die aus oft ganz alltäglichen Beobachtungen metaphysische Funken schlagen, hat er sich auch als Essayist einen herausragenden Namen gemacht. Nach dem Studium der Philosophie und Psychologie in Krakau, wo er heute wieder lebt, engagierte er sich früh in der Bürgerrechtsbewegung und ging nach der Verhängung des Kriegsrechts 1981/82 über West-Berlin und die USA ins Pariser Exil. Er lehrte Literatur in Houston, Texas, und an der University of Chicago. Im Hanser Verlag erschienen zuletzt der Gedichtband "Unsichtbare Hand" und die Tagebuchnotate "Die kleine Ewigkeit der Kunst". In Berlin erhielt er am Mittwoch den mit 15 000 Euro dotierten Jean-Améry-Preis für europäische Essayistik, der vom Verlag Klett-Cotta und der Allianz Kulturstiftung in Zusammenarbeit mit Eurozine, dem Netzwerk europäischer Kulturzeitschriften, vergeben wird.
Herr Zagajewski, seit Monaten gehen in Polen Tausende gegen die nationalkonservative Regierung von Ministerpräsidentin Beata Szydło auf die Straße. Vorbild für das organisierende Komitee zur Verteidigung der Demokratie (KOD) ist das Mitte der 70er Jahre von Bürgerrechtlern gegründete Komitee zur Verteidigung der Arbeiter, ein Vorläufer der „Solidarność“. Erleben Sie die alten Kämpfe neu?
Für meine Generation gilt, dass wir uns anlächeln, wenn wir uns bei den Demonstrationen begegnen. Ein Gefühl aus unserer Jugend kehrt zurück, wir bewegen uns wie in einer sentimentalen Wolke. Das Ganze wäre aber hoffnungslos, wenn wir uns nicht mit der jungen Generation verbündet hätten.
Versteht diese Generation eigentlich, was auf dem Spiel steht?
Man sagt von ihr, dass sie völlig unpolitisch sei. Doch ob es nun mein Wunsch ist oder die Wirklichkeit: In den Demonstrationen der KOD glaube ich zu sehen, dass viele Jüngere begreifen, dass die Regierung rein technisch gesehen die Meinungsfreiheit zwar nicht einschränkt, die Atmosphäre jedoch gefährlich verändert hat. Wir haben in den vergangenen 25 Jahren einfach Glück gehabt. Es gab viele Probleme, aber auch ein Klima, in dem man alles öffentlich diskutieren konnte. Jetzt herrscht ein neuer Ton.
Sie meinen das vergiftete Klima, für das vor allem Jarosław Kaczyński, der Vorsitzende der Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość), kurz PiS, verantwortlich ist.
Ich kann nur für die Mehrheit der Intelligenz sprechen. Sie empfindet es so: Im vergangenen Dezember verglich Kaczynski die demonstrierenden Polen mit der Gestapo. Das ist die Atmosphäre, in der wir uns bewegen. Ich muss wiederholen, was ich erst kürzlich sagte: Man hat uns das Land gestohlen – auch wenn es sich jetzt, anders als zu kommunistischen Zeiten, um eine demokratisch gewählte Regierung handelt.
Sie haben eine bewegte antikommunistische Vergangenheit hinter sich. Unter anderem haben Sie den „Brief der 59“ unterzeichnet, mit dem 1975 Intellektuelle gegen eine Verfassungsänderung protestierten, die die Führungsrolle der KP festschreiben sollte. Nun hat die Regierung ein Gesetz zur Reform des Verfassungsgerichts verabschiedet, mit der sie es als Kontrollinstanz schwächt. Ist das, zusammen mit dem neuen Mediengesetz und der Umbesetzung wichtiger Posten, nicht eine sehr viel greifbarere Bedrohung?
Es kommt hinzu. Die neue Macht will einfach alles haben. Ihr Anspruch reicht bis zur Karikatur. Erst kürzlich wurden drei Experten für die Zucht von Vollblutarabern, einer polnischen Spezialität, entlassen. Anna Stojanowska, die zuständige Mitarbeiterin im Ministerium für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung, musste wie zwei Leiter staatlicher Gestüte gehen und PiS-genehmen Leuten Platz machen. Durch solche Ereignisse entsteht das Bild einer gewissen Gewalt.
Ein politisch-satirisches Gedicht gegen die Regierung
Nach Jahren der politischen Abstinenz haben Sie Anfang Januar in der „Gazeta Wyborcza“ ein bitter-satirisches Gedicht gegen die Regierung geschrieben. Wie kam es trotz Ihrer Skepsis gegenüber dem politischen Gedicht dazu?
Weil Gedichte kurz und lakonisch sind. Wenn man zornig ist und angreifen will, warum soll man dann zehnseitige Artikel schreiben? Alles lässt sich auch in ein paar Zeilen sagen. Ganz Europa hat eine lange Tradition des politischen Gedichts. Denken Sie nur an Bertolt Brechts wunderbares Gedicht „Die Lösung“, mit dem er auf die Niederschlagung des Aufstands vom 17. Juni 1953 reagierte. Darin heißt es: „Wäre es da / Nicht doch einfacher, die Regierung / Löste das Volk auf und / Wählte ein anderes?“
Er hat es damals nur nicht veröffentlicht.
Ja leider, das Gedicht hat man erst nach seinem Tod gefunden. Trotzdem ist es ein wichtiger Text, der auch in Polen sehr bekannt war. Brecht war doch der berühmte kommunistische Dichter!
Gibt es denn regierungsfreundliche Künstler, die sich instrumentalisieren lassen?
Es gibt wohl ein paar drittklassige Kabarettisten, die schlechte Gedichte für die PiS schreiben. Aber dabei handelt es sich nicht um ernst zu nehmende Kunst. Es ist durchaus ein Problem für die Regierung, dass sich kein namhafter Künstler auf ihre Seite stellt, geschweige denn die Mehrheit der Intelligenz. Die PiS kann bestenfalls einige Professoren und Intellektuelle für sich beanspruchen.
Die Situation in Polen wird gerne mit der ungarischen unter Viktor Orbán verglichen. Ungarn leckt noch immer Wunden, die mit den Trianon-Verträgen zu Ende des Ersten Weltkriegs verbunden waren. Unter welchen Traumata leidet Polen?
Polen hat keine derartigen Traumata zu verarbeiten. Die Regierung versucht vielmehr, die Wunden, die der Zweite Weltkrieg geschlagen hat, wieder aufplatzen zu lassen. Beispielsweise hat sich ein Kult um die Soldaten der polnischen Heimatarmee entwickelt, die im Kampf gegen die Kommunisten auch nach Kriegsende im Untergrund geblieben sind. Aus diesen sogenannten verstoßenen Soldaten macht man nun große Helden.
Auch in anderer Hinsicht ist der geschichtspolitische Dreh- und Angelpunkt der Zweite Weltkrieg. Der polnisch-amerikanische Historiker Jan Tomasz Gross erklärt die Scheu der Polen vor Flüchtlingen mit einer Verdrängung der Mitschuld am Holocaust. Halten Sie das für plausibel?
Ganz und gar nicht. Ich weiß es zu schätzen, dass Gross über diese unangenehme Schuld spricht. Diese Verbindung herzustellen ist aber ein beinahe Kierkegaard’scher Sprung.
Kümmert sich Polen vielleicht deshalb so wenig um Flüchtlinge aus Syrien und Afrika, weil es mit denen aus der Ukraine schon genug zu tun hat?
Bei den Begriffen müssen wir vorsichtig sein. Denn diese Flüchtlinge, vielleicht eine Million, haben in Polen Arbeit gefunden. Sie sind willkommen, sie sind fleißig, sie lernen die Sprache in Windeseile, man sieht sie nicht, und meistens wollen sie nicht bleiben. So wie einst die Polen nach Deutschland kamen, kommen jetzt die Ukrainer nach Polen.
Warum sperrt sich Polen dann so strikt gegen die Aufnahme von Flüchtlingen?
Die PiS hat schon vor der Wahl erklärt, dass sie keine Flüchtlinge will und fand damit Anklang. Die Polen haben über viele Jahre keine Erfahrungen mit Fremden mehr gemacht. Besonders in der Provinz geht es noch zu wie im 19. Jahrhundert. Eine liberalere Regierung würde diese Leute vielleicht umstimmen. Die jetzige Regierung aber spielt damit, dass die Provinzler Angst vor allem Fremdartigen haben und warnt zugleich davor.
Wie konnte dieses 19. Jahrhundert die rasante Modernisierung überleben?
Nun, es ist einfacher, über eine Autobahn zu verfügen als über einen modernen Geist. Es herrscht ein Kampf zwischen äußerer Modernisierung und innerem Konservatismus. Und nicht alle haben am Fortschritt teilgenommen. Die Leute lieben neue Autos, die Gärten sind sehr viel schöner geworden, die Dörfer reicher. Aber damit geht eine Modernitätsangst einher, die von den Pfarrern geschürt wird. Auch Neid ist ein Faktor, wenn man hört: Schau nur, was dein Nachbar für ein schönes Haus hat, und wo bleibst du?
Zu Zeiten des Eisernen Vorhangs gab es zwischen Partei und Kirche heftige Spannungen, aber auch ein heimliches Stillhalteabkommen. Welche Rolle spielt die Kirche in der aktuellen Lage?
Sie ist eine Katastrophe. Der Katholizismus sollte etwas Universales sein, aber die Kirche hat seinen Geist verraten. Sie kann nicht verstehen, warum Papst Franziskus über die Armut spricht. Die Priester besitzen größtenteils eine Arroganz, die sich mit der Idee des Christentums nicht vereinbaren lässt. Und die Vertreter der Kirche äußern politische Meinungen, die dem rechtsnationalen Lager zuneigen. In der Provinz sollen die Pfarrer am Wahlsonntag sogar eindeutige Empfehlungen ausgesprochen haben.
Patriotismus nach PiS-Maßstäben kann man nicht über Nacht verordnen. Hat er womöglich eine langjährige Grundlage?
Entscheidend ist die Spaltung der Gesellschaft. Es gibt eine liberale Hälfte, die die Modernisierung mit Freuden akzeptiert, und es gibt eine Hälfte, die Zuflucht in der Verteidigung des Alten sucht. Das betrifft leider sogar viele junge Polen.
Präsident Andrzej Duda wird in zahllosen Witzen verspottet. Der klassische politische Witz ist nicht nur in Deutschland ausgestorben – er fühlt sich in Diktaturen bekanntlich am wohlsten. Ist er mit der PiS wieder aufgetaucht?
Ja, denn lange gab es keinen Anlass. Auf einmal haben wir wieder ganz viele Witze – zum Beispiel den, in dem Jarosław Kaczyński einen Tag mit Viktor Orbán verbringt, und die beiden verstehen sich so gut, dass er ihm zum Schluss sagt: Du darfst die Zügel, mit denen ich Duda lenke, ruhig mal für eine Minute halten.
Macht Ihnen die Renaissance des politischen Witzes nicht auch Hoffnung?
Als ich jung war, las ich bei dem Philosophen Herbert Marcuse etwas von „repressiver Toleranz“. Damals habe ich das nicht verstanden. Denn zu kommunistischen Zeiten träumten wir alle von Toleranz. Wie sollte Toleranz etwas Repressives haben? Allmählich fange ich an, es zu verstehen. Denn wir können vieles, fast alles sagen. Es spielt nur keine Rolle.
Das Gespräch führte Gregor Dotzauer.
Gregor Dotzauer