Ben Lerner und sein Roman "22:04": Die ausgeglühte Kunst
Der amerikanische Dichter Ben Lerner kämpft in seinem Roman „22:04“ um literarische Ernsthaftigkeit. Ohne Ironie kann das nicht abgehen.
Die Grenze zwischen Kunst und Wirklichkeit ist hauchdünn. Wer sich auf der Bühne in Rage redet, muss tatsächlich einen Funken Wut in sich entfachen. Wer eine Blume malt, hat sie, direkt oder indirekt, vor Augen. Und wer sich in die jenseitigen Gebiete von Beethovens letzter Klaviersonate Nr. 32 begibt, kommt nicht umhin, mindestens einen Schritt aus dem eigenen Leben heraus zu tun. Alles in der Kunst ist wie in der Wirklichkeit – nur ein klein wenig anders: Teil einer symbolischen Ordnung, in der nichts mehr einfach es selbst ist. Der Schauspieler übernimmt eine Rolle, der Komponist betätigt sich bei allem handwerklichen Aufwand als eine Art Medium, und das Publikum versucht dem, was sogar in der unsinnlichsten und ungegenständlichsten Kunst ein Stück Illusion bleibt, die ihm zugemessene Bedeutung abzugewinnen.
Zugleich bleibt der Abstand zwischen Kunst und Wirklichkeit unendlich. Vielleicht, und hier kommt der amerikanische Dichter, Erzähler und Essayist Ben Lerner ins Spiel, ist aber sogar das selbstverständliche Band zwischen den Sphären zerrissen, und das Beschwören menschheitlicher Traditionen nichts als ein Festhalten an Gewohnheiten, deren Sinn sich erschöpft hat. Was geschieht, wenn in den Konzertsälen jahraus, jahrein Beethovens Schicksalssymphonie gespielt wird? Ist es mehr als ein Ritual, wenn in den Schulen „Hamlet“, „Antigone“ und „Faust“ gelehrt werden? Und betreibt nicht die James-Bond-Reihe einer geradezu neurotische Kulturpflege, die sich besser in rein merkantilen Begriffen beschreiben ließe?
Der Dichter als Scharlatan
Zumindest der Ich-Erzähler von Lerners erstem Roman „Abschied von Atocha“, ein mit einem Madrid-Stipendium ausgestatteter US-Lyriker namens Adam, müsste darüber Bescheid wissen. Als Vertreter einer Minderheitenkunst, die zur Not auf die stille Bewunderung junger Damen, nicht jedoch auf breiten Rückhalt in der Bevölkerung hoffen darf, sollte er das Verteidigenswerte verteidigen können. Doch nicht nur, dass er in seinem kiffenden Schluritum ständig erwartet, als der Scharlatan enttarnt zu werden, der er in vieler Hinsicht ist. Er fühlt sich – jenseits der Lektüre von Federico García Lorca und John Ashbery – nicht einmal in der Lage, die Größe fremder Meisterwerke wahrzunehmen. Allmorgendlich begibt er sich in den Prado und stellt sich vor Rogier van der Weydens „Kreuzabnahme“ aus dem 15. Jahrhundert, unfähig zu der profunden Kunsterfahrung, die ihm die museale Umgebung abverlangt. Während andere davor in Tränen ausbrechen, bleibt er innerlich reglos.
Der Ich-Erzähler von Lerners zweitem Roman „22:04“ ist Adam eng verwandt. Die Tatsache, dass er nun Ben heißt, in New York lebt und mit einem sechsstelligen Vorschuss an einem zweiten Roman schreibt, dem der Leser bei der Entstehung zusieht, sollte einen nicht dazu verleiten, ihn für ein noch reineres Alter Ego zu halten. Ben Lerner, 1979 in Topeka, Kansas, geboren und aufgewachsen, hat gerade ein MacArthur Fellowship, den sogenannten Genius Grant, zugesprochen bekommen, eine fünf Jahre währende Förderung für US-Künstler und Wissenschaftler aller Sparten, und schreibt an einem Buch über den Hass, mit dem Dichtung seit Platons Zeiten zu leben hat.
Das Motto stammt von Walter Benjamin
Die Abweichungen sind also zahlreich, die Lust aber, an jenem Spalt zwischen Kunst und Wirklichkeit zu operieren, in dem weniger raffinierte Autoren gern versinken, ist immens. Dafür steht schon das in der Folge motivisch reich ausgestaltete Motto des Romans: „Es gibt bei den Chassidim einen Spruch von der kommenden Welt, der besagt: Es wird dort alles eingerichtet sein wie bei uns. Wie unsere Stube jetzt ist, so wird sie auch in der kommenden Welt sein; wo unser Kind jetzt schläft, da wird es auch in der kommenden Welt schlafen. Was wir in dieser Welt am Leibe tragen, das werden wir auch in der kommenden Welt anhaben. Alles wird sein wie hier – nur ein klein wenig anders.“
Es stammt, arg zurechtgestutzt, aus einem längeren Denkbild mit dem Titel „In der Sonne“. Walter Benjamin hat es einst auf Ibiza geschrieben, und dass Lerner als Quelle eine Schrift von Giorgio Agamben angibt, kann schon mit der Veränderung von Kontexten zu tun haben, innerhalb derer sich eine Nuance zur Revolution auswächst. Man kann das chassidische Versprechen aber auch als Witz verstehen, in dem der Eintritt in die messianische Zeit des Olam Haba, wie sie das Judentum denkt, bereits vollzogen ist – leider ohne den inneren und äußeren Frieden, der sich daran knüpfen soll. Denn das klein wenig Andere im Gefolge des Kommenden ist in seiner Diesseitigkeit womöglich nicht zu übertreffen. Das Erhabene hat sich unmerklich ins Lächerliche verwandelt. Alles ist wie immer – nur ein wenig bedeutungsloser.
Das große Thema der achtziger Jahre, wie es federführend Jean Baudrillard formulierte, war die mediale Simulation von Wirklichkeit. Ben Lerners Thema ist die Simulation von Kunst – und welche Aufgaben ihr im Angesicht einer vermeintlich zurückweichenden Wirklichkeit bleiben. Die alten Fragen, inwieweit Kunst die Wirklichkeit spiegeln soll und zu welcher sozialen Verantwortung sie aufgerufen ist, hat er dabei längst ad acta gelegt. Es geht um eine Wirklichkeit, die sich in ihrer Dringlichkeit nicht mehr erleben lässt, und um eine Kunst, die sich in ihrer Harmlosigkeit eingerichtet hat – inmitten von Blutbädern und ästhetischem Agitprop. Literarisch gesehen treibt ihn eine Sprachskepsis an, der die Worte nicht im Mund zerfallen wie modrige Pilze, sondern in der Eloquenz alles erstickt. Die künstlerische Praxis erlebt sich in ihrer Täuschungshaftigkeit so bewusst, dass sie jede Suche nach einem Äußerungsmodus aufgegeben hat, der einen der Wirklichkeit angemessenen Einsatz verlangt.
Ein Teil dieser Wirklichkeit zeigt sich schon in „Abschied von Atocha“, als der Held die Madrider Bombenattentate vom 11. März 2004 miterlebt. Im Angesicht von Feuerwehrsirenen und kreisenden Helikoptern fällt ihm indes nichts Besseres ein, als sich auf der Website der „New York Times“ über die Ereignisse aufklären zu lassen.
„22:04“ – der Titel bezieht sich auf die Uhrzeit, zu der in der Science-Fiction-Komödie „Zurück in die Zukunft“ der Blitz einen Rathausturm trifft – erzählt von dem Moment, in dem sich die Welt im Licht unerwarteter Ernsthaftigkeit zeigt. Zweimal, am Anfang und am Ende, ziehen Wirbelstürme auf, die sich als Irene und Sandy identifizieren lassen und den Erzähler sowie seine platonische Herzensfreundin Alex mit dem Gefühl einer Apokalpyse konfrontieren, in dem jede noch so vernünftige Vorkehrung gegen die dann glimpflich vorüberziehende Bedrohung absurden Charakter annimmt. Außerdem gerät Ben in den Verdacht, an einer genetischen Bindegewebserkrankung, dem Marfan-Syndrom, zu leiden.
Ich scherze und ich scherze nicht
Dieses Endlichkeitsthema, zu dem sich als Gegenstimme Bens Samenspende für die sich nach Kindern verzehrende Alex gesellt, wäre kaum auszuhalten. wenn es nicht so komisch intoniert wäre. Es hat den Stoizismus von Buster Keaton und den Schalk der Gebrüder Coen, einen intellektuellen Scharfsinn, der gerade vor dem Alltäglichsten nicht haltmacht, und die sprachliche Genauigkeit und Assoziationskraft des erfahrenen Lyrikers: Im Frühjahr soll sein Gedichtband „Mean Free Path“ in der Übersetzung von Steffen Popp und Monika Rinck bei Luxbooks auf Deutsch erscheinen. Lerner erprobt überdies einen Modus des Erzählens, der über jede popkulturelle Ironie hinausgelangen will. Sein „Ich scherze und ich scherze nicht“ sucht nach dem authentischen Ausdruck für ein durch und durch inauthentisches Lebensgefühl, das sich allzu gern selbst ergreifen würde, doch immer wieder scheitert.
Die fünf, jede einfache Chronologie in Anlehnung an „Zurück in die Zukunft“ auf den Kopf stellenden Teile, sind um Lerners ursprünglich im „New Yorker“ erschienene Erzählung „The Golden Vanity“ herumgebaut. Der Ich-Erzähler entwickelt sie als Meta-Roman eines ratlos diese und die eigene Geschichte ausbeutenden Schriftstellers, der nicht recht weiß, worüber er schreiben soll, mit dem Darüber-Räsonieren aber einen ökonomischen Wert herstellt, der 54 Inseminationen oder 25 Jahren Arbeitskraft eines mexikanischen Migranten entspricht.
„22:04“ besetzt dabei wie Lerners Romandebüt einen schmalen Grat zwischen dem Fiktionalen und dem Nicht-Fiktionalen, dem Essayistischen und dem haarklein Ausgemalten. Er nimmt auch die Lügenhaftigkeit des „Atocha“-Erzählers auf, indem Ben Briefe des Dichters Robert Creeley zu fälschen beginnt, um sie zu verkaufen. Wenn „22:04“ den Charme des Debüts nicht ganz erreicht, liegt es nicht daran, dass es sich eher um einen Versuch über die Form des Romans als um einen Roman selbst handelt, sondern um das Maß von Selbstbezüglichkeit, das er sich hier gestattet. Denn die Kraft von Kunst geht jeden an, die Probleme der Zunft vor allem ihre Mitglieder.
Ben Lerner: 22:04. Roman. Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl. Rowohlt, Reinbek 2016. 314 Seiten, 19,95 €.
Ben Lerner: Abschied von Atocha. Roman. Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl. Rowohlt Taschenbuch, Reinbek 2015. 256 Seiten, 9,99 €.
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