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Schreiben statt leben. Wolfgang Hilbig starb 2007. 
©  dpa/Ulrich Zaiser

Biografie über Wolfgang Hilbig: Immer auf der Suche nach dem Wort

Die Last, die Schuld und das Leben: Der Literaturwissenschaftler Michael Opitz hat die erste große Biografie des Schriftstellers Wolfgang Hilbig geschrieben.

Es ist still geworden um ihn, gut zehn Jahre nach seinem Tod. Ein Kreis von Ausgeschlafenen wird jedoch nie aufhören, ihn zu lesen. Mutig, fast trotzig publiziert S. Fischer, sein treuer Verlag, eine Werkausgabe. Dieses Jahr erscheint der abschließende siebte Band mit Essays, Reden und Interviews. Wolfgang Hilbig ist der große Solitär der deutschen Literatur der letzten Jahrzehnte. Wer ihn für sich entdeckt, wird süchtig nach dem Ton seiner magischen Texte. Einem Erzählen von beharrlicher Präzision, dessen Inhalte kaum wiedergegeben werden können, überbordend an Atmosphäre, Farben, Gerüchen, Geräuschen. Hilbigs Gedichte, Erzählungen, Romane, dazu einige hinreißende Aufsätze, waren Entdeckungen, seit sie Ende der siebziger Jahre im Westen erschienen. Derlei hatte man nie gelesen, und nun wollte man es nicht missen, so vertraut und fremd zugleich es war.

In die Öffentlichkeit gebracht hat ihn Karl Corino, als Dichterkollegen erstmals gewürdigt Franz Fühmann mit der zum Etikett gewordenen Wendung „ein großes Kind, das mit Meeren spielt“. Lange Jahre war der gelernte Bohrwerksdreher als Heizer angestellt, was ihm wenig half: Im Arbeiterstaat erschien nach langen Kämpfen nur ein Buch. Im Westen wurde er hochgelobt und wollte sich, seitdem er dorthin gegangen war, am liebsten allem entziehen.

Seine Heimat war die verlassene Kleinstadt Meuselwitz, südlich von Leipzig im Altenburger Land. Dort liegen die Wurzeln einer kaum erklärbaren Emanzipation vom Wachstuchtisch in der Küche, an dem er schrieb, als gelte es das Leben. Dieser Dichter, einer, wie es sie nur selten gibt, entkam dem Analphabetismus seines Großvaters, ohne dessen „art / zu sehen“ vergessen zu können. Ihm verdankt er die Wucht des Mündlichen, es ist Wucht und Zärtlichkeit zugleich. Hilbig war zeitlebens auf der Suche nach dem Wort. Er kämpfte mit der Sprache, einer „Sprache, deren Sätze immer wieder revidiert werden müssen“ und die ihm zur Verfügung stand wie wenigen sonst.

Opitz hat sich in Hilbigs Werk und Leben hineingegraben

Der Berliner Literaturwissenschaftler Michael Opitz hat nach gründlichen Recherchen die erste umfassende Biographie Wolfgang Hilbigs geschrieben. Er hatte es mit einem Paradoxon zu tun. „Leben habe ich nicht gelernt“, bekannte der Dichter in einem „Spiegel“-Gespräch, als er 2002 den Büchner-Preis erhielt. „Er wollte ja gar nicht leben, er wollte ja nur schreiben“, erinnerte sich Natascha Wodin, die acht Jahre mit ihm verheiratet war. „Das Leben hat ihn belästigt.“ Seinem Roman „Das Provisorium“ stellte Hilbig ein Motto von August Strindberg voran: „Um meine Werke schreiben zu können, habe ich meine Biografie, meine Person geopfert.“ Wie schreibt man die Biografie eines Mannes, dem Schreiben wichtiger als Leben war?

Opitz hat das Unmögliche gewagt und sich mehr als fünf Jahre in das Werk und die Lebensspuren Hilbigs hineingegraben – wie Bergleute, von denen sein Protagonist umgeben war, in den Stollen. Der Biograf beschreitet den einzig möglichen Weg, indem er dem vertraut, was der Dichter hinterlassen hat. Er entdeckt in den teils unverhohlen autobiografisch geprägten Schriften das eigentlich Vitale dieses Schriftstellers, ohne die Grenzen zwischen Erlebtem und Geschriebenem zu verwischen – ein schmaler Grat.

Der Verfasser ist so von seinem Gegenstand ergriffen, dass er sich im Tonfall mitunter einer gewissen Affinität zu ihm nicht erwehren kann. Etwa wenn er Worte wie Asche, Gewalt, Krieg hartnäckig umkreist. Dabei wahrt er das Geheimnis, das um diesen Dichter ist. Opitz hat das von der Akademie der Künste aufbewahrte Archiv durchforstet. Er erschließt Tagebücher, Briefwechsel, Fassungen großer literarischer Arbeiten wie „Alte Abdeckerei“, „prosa meiner heimatstraße“, „die gewichte“, „Über den Tonfall“. Und er fand Ungedrucktes: „Die blaue Blume“, eine frühe, über Jahre vorangetriebene Arbeit, deren poetologischen Impuls er herausarbeitet. Diese Lebensbeschreibung eröffnet den Zugang noch zu hermetischen Texten, weil sie anhand der Überlieferung ihr Gewordensein nachzeichnet. Das Archiv ist das Organon der Erkenntnis, motivierend und differenzierend. Dieses Buch ist aus dem Archiv heraus geschrieben – mit einer durchaus sympathischen Obsession fürs Materielle der Überlieferung.

Wer sich auf die Biografie einlässt, wird Hilbig lesen wollen

Michael Opitz zieht Literatur und Leben zusammen. Hilbigs Texte arbeiten ihm zu, sie bestätigen sein Verfahren als ein mögliches. Das heißt nicht, dass der Biograf werkimmanent vorgehen würde. Er bettet das im Geschriebenen wiedererkennbare Leben in die Geschichte ein. Besonders geglückt ist das bereits im ersten Kapitel, in dem Hilbigs Geburtstag, der 31. August 1941, als historischer Schlüsselmoment begriffen wird. An diesem Tag trafen sich Hitler und Mussolini, der Überfall auf die Sowjetunion lag gut zwei Monate zurück. Die Meuselwitzer mussten nachts verdunkeln, und am Tag erfreuten sie sich der Darbietungen eines Unterwasserkünstlers. Im letzten Jahr des Krieges befand sich unmittelbar neben dem Wohnhaus der Familie ein KZ-Außenlager, die meist weiblichen Häftlinge wurden an dem Haus vorbeigetrieben. Das ist erregend zu lesen und vermittelt einen Begriff von Last und Schuld, die Hilbig mit sich trug.

Natürlich besteht die Gefahr, dass ein solches Vorgehen die Literatur zu sehr ausleuchtet. Aber Opitz vergisst nie, dass er es mit literarischen Texten zu tun hat. Seine Haltung ist bei aller Souveränität bescheiden. Er möchte zum Werk hinführen, zu ihm zurück. Das liest man mit der Kenntnis seiner Studie genauer. Christa Wolf schrieb Wolfgang Hilbig am 19. Oktober 1985: „Du lebst und arbeitest offenbar in dem Prozess, Unvereinbares miteinander vereinbaren zu wollen. Das ist sehr anstrengend, oft erschöpfend. Wenn man aber diesem Vorgang einige Seiten abpressen kann, dann sind sie wesentlich.“ Michael Opitz hat diesen unglaublichen, eigentlich unbeschreiblichen Prozess aufgearbeitet und Material in einer bestürzenden Fülle gehoben. Wer sich auf seine Biografie einlässt, wird Hilbig lesen wollen. Wieder oder – wie beneidenswert – zum ersten Mal. Erdmut Wizisla

Michael Opitz: Wolfgang Hilbig. Eine Biographie. S. Fischer, Frankfurt/Main 2017. 672 Seiten, 28 €.

Erdmut Wizisla

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