Literatur: Das sind die Lieblingsromane der Germanisten
Irritierend, geheimnisvoll, genial: Germanistinnen und Germanisten erklären, welches Werk sie besonders fasziniert - von Goethe über Kafka bis Bernhard.
Irmela Marei Krüger-Fürhoff, Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin
Johann Wolfgang von Goethe: Die Wahlverwandtschaften. Einer meiner Lieblingsromane sind „Die Wahlverwandtschaften“ von Johann Wolfgang Goethe, vielleicht gerade deshalb, weil mich die erste Lektüre so gar nicht überzeugte: Eduards überschwängliche Leidenschaft für seine angeheiratete Nichte – kitschig. Charlottes Liebes-Entsagung, Ottilies Selbsttötung durch Schweigen und Nahrungsverweigerung – psychologisch schwer nachvollziehbar. Die Verweise auf Chemie, Landschaftsarchitektur, Ökonomie des Landadels – konstruiert.
Mit jedem Wiederlesen und jeder Beschäftigung mit Forschungsliteratur aber schien der Roman eine neue Bedeutungsschicht preiszugeben. Konstruiert? Ein Tummelplatz für Fährtensucherinnen und Spurenleserinnen. Psychologisch schwer nachvollziehbar? So fremd wie die Umbruchzeit um 1800, aus dessen Fundamenten sich unsere moderne Individualität speist. Kitschig? Ja, und anrührend und in einzelnen Formulierungen unvergesslich. Außerdem doppelzüngig, ironisch und auch mit neuen Deutungsideen nicht handhabbar zu machen. „Tournez, s’il vous plaît!“ lautet eine scherzhafte Bitte im Roman, die sich auf die schöne Rückenansicht einer der Personen bezieht, die ein Gemälde als „tableau vivant“ nachstellen. Goethes „Wahlverwandtschaften“ sind mit Sicherheit nicht das, was man im angloamerikanischen Sprachraum als „page turner“ bezeichnet. Aber sie laden dazu ein, immer wieder neue Seiten zu entdecken und an der Auflösung des Spiels mit Verweisen lustvoll zu scheitern – und sehr viel mehr lässt sich von einem Roman eigentlich kaum erwarten.
Annie Ring, Lecturer in German am University College London
Wolfgang Hilbig: Das Provisorium. Nach jahrelanger Zensur und seiner riskanten Ablehnung einer Stasi-Kollaboration entschied sich der ostdeutsche Dichter Wolfgang Hilbig (1941–2007) 1985 in den Westen zu gehen. Dort verfasste er den autofiktionalen Roman „Das Provisorium“, der in der historischen Übergangszeit der 80er und 90er spielt. Das Thema: der Versuch, in Westdeutschland noch einmal zum Schreiben zu kommen. Sein Scheitern wird im schmerzhaften Expressionismus des Textes, in Hilbigs flüchtiger, schüchterner Schreibweise, deutlich.
Warum gelingt es dem Protagonisten C. nicht zu schreiben, wo er doch hier ästhetische Freiheit genießt? Liegt es an C.s Alkoholismus, an seinen kommunikationsarmen Beziehungen? Oder an den unheimlichen Einkaufszentren, Bahnhöfen und Hotels, in denen er sich aufhält? Die zirkuläre, zögerliche Struktur der Handlung betont, wie diese Figur, aus der erstarrten DDR ankommend, auf eine chronische Beschleunigung, Flexibilität und Einsamkeit stößt, die ein gelingendes Leben und Schreiben genauso verhindern, wie es die DDR tat.
C.s Geschichte wird in einer Sprache überliefert, die vom Erbe Dostojewskis, Kafkas, Rimbauds, Woolfs zeugt – den DichterInnen der europäischen Moderne, die Hilbig während seiner Arbeitsschichten in DDR-Fabriken las. Somit hinterließ Hilbig eine Prosa, deren nachdenkliche Bestürzung uns mit den bleibenden ethischen Fragen unserer Zeit hilft: Wie unter all dieser Bewegung schreiben? Wie leben?
Peter-André Alt: Kafkas Process funktioniert wie unsere Träume
Peter-André Alt, Professor für Neuere deutsche Literatur und Präsident der FU Berlin
Franz Kafka: Der Process. Kafkas „Process“, entstanden 1914/15, veröffentlicht erst 1925, ist ein paradoxer Kriminalroman. Der erste Satz schon verstrickt uns in einen Widerspruch, der völlig verrückt wirkt. „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ Gesucht wird fortan nicht der Täter, sondern die Tat. K., der biedere, ein wenig paranoide Bankbeamte, hat offenkundig nicht Böses getan. Aber gerade dieses Offenkundige gerät im Verlauf der Geschichte zu etwas Zweifelhaftem, Vieldeutigem. „Getan hätte“, so heißt es in Kafkas erstem Satz. Der Konjunktiv verrät, dass hier etwas Mögliches, aber nicht unbedingt etwas Reales zur Sprache kommt.
Je länger der Roman fortschreitet, desto schwankender geraten die Verankerungen, in denen sich seine Welt erhält. Verhöre werden in Dachkammern durchgeführt, als Gesetzbücher dienen pornografische Schriften, alle Menschen scheinen Teil des Gerichts zu sein, und nur der Angeklagte weiß nichts davon. Wann das Verfahren beendet sein wird, scheint unklar. K. selbst rechtfertigt sich ins Ungewisse, dürftig beraten von dubiosen Anwälten, die ihre Klienten im Bett empfangen. Ohne Verteidigungsstrategie, voller Schuldgefühle jenseits greifbarer Schuld, schlingert er durch einen Albtraum. Schwindlig wird nicht allein dem Angeklagten in der Stickluft der Verhörzimmer. Auch der Leser kommt ins Taumeln, weil er Schein und Wirklichkeit, Lüge und Wahrheit nicht mehr zu unterscheiden vermag.
Ist K. schuldig, weil er an nichts glaubt? Weil er seine Sexualität verdrängt? Oder verhaftet man ihn als Normalbürger, der in einem Terrorstaat ohne humanes Rechtssystem lebt? Seit fast hundert Jahren haben die Interpreten nahezu sämtliche Weltanschauungen der Moderne in Kafkas Roman projiziert. Sie haben ihn dadurch weder erklären noch entzaubern können. Seine Rätsel bleiben, sie machen ihn für jede neue Lesergeneration neu anziehend und geheimnisvoll. Vermutlich liegt seine besondere Aura darin, dass er wie unsere Träume funktioniert. Er erzählt aus der Welt des Unbewussten, ohne uns näher zu erklären, was sie bedeutet.
Ulrike Vedder, Professorin für Neuere deutsche Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart und Theorien und Methoden der literaturwissenschaftlichen Geschlechterforschung an der Humboldt-Universität
Choderlos de Laclos: Les Liaisons dangereuses. „Les Liaisons dangereuses“ heißt ein großartiger Briefroman, dessen Autor Choderlos de Laclos (1741–1803) als Offizier einen neuen Bombentypus erfindet, 1793 der Guillotine entgeht, 1800 General der napoleonischen Rheinarmee wird. Zu dem Zeitpunkt zählt sein (einziger) Roman bereits 50 000 Exemplare. Dieser enorme Erfolg verdankt sich zunächst der frivolen Thematik – Intrigen, erotische Abenteuer, Duelle – und der herzzerreißenden Liebe der tugendhaften Madame de Tourvel zu ihrem Verführer. Dessen libertines Projekt besteht darin, die als uneinnehmbar geltende Tourvel dazu zu bringen, sich ihm liebend hinzugeben, um sie dann zu ruinieren; seine Vertraute, die Marquise de Merteuil, verlangt dafür „schriftliche Beweise“ und stellt ihm als Preis eine gemeinsame Liebesnacht in Aussicht.
Zudem fesselt die Romanlektüre dank der raffinierten Inszenierung des gesamten Geschehens ausschließlich in Briefen: Die Briefe kreuzen sich, werden abgefangen, unterschlagen, weitergereicht, diktiert; entscheidende Wissensvorsprünge hängen vom Zugang zu Briefkästen und der raschen Überbrückung postalischer Entfernungen ab; jedes Briefgeheimnis wird gebrochen: Medienreflexion auf der Höhe ihrer Zeit.
Letztlich fasziniert der Roman durch seine Gesamtaufnahme der Pariser Gesellschaft am Vorabend der Revolution, mit ihren Machtstrukturen und Geschlechterordnungen, ihrem Zynismus und theatralen Charakter. Diese Vielstimmigkeit spiegelt sich nicht nur in den geschilderten Salongesprächen oder den verschiedenen Tonfällen der Briefe, je nach Absender, sondern auch in der Fülle von Anspielungen auf zeitgenössische Philosophie, Militärgeschichte, Körperdiskurse, Liebesmodelle, verdeckt auch auf Zensur und Staatsgewalt.
Ob das alles der historischen Wahrheit entspricht? Zwei Vorworte hat der Roman, eines bejaht die Authentizität, das andere die Fiktion.
Ein krankhaftes, aber rührendes Porträt einer vernachlässigten Freundschaft
Daniel Bowles, Assistant Professor of German Studies am Boston College, Massachusetts
Thomas Bernhard: Wittgensteins Neffe. Ich hatte kein Entscheidungsglück. Die Gewissheit, einen einzigen deutschsprachigen Lieblingsroman zu haben, wurde mir jedenfalls nicht zuteil. In jeder Beziehung sprechen und regen mich jedoch Romane an, etwa Ingeborg Bachmanns „Malina“, Thomas Meineckes „Tomboy“, Christian Krachts „Imperium“ oder Reinhard Jirgls „Nichts von euch auf Erden“, deren beachtliche Sprachkunst sich mit der Gestaltung der jeweiligen literarischen Form eng verquickt.
In dieser Hinsicht, und in meiner Wertschätzung, ragt aber einer noch radikaler aus der Reihe dieser verehrten Dichter_innen hervor: Thomas Bernhard. Selbst andere begabte Schriftsteller hat er mir verleidet. Der wiederholten Lektüre von Bernhards Werk werde ich ob seiner humoristischen Tiraden nämlich nie und nimmer müde, insbesondere nicht des schmalen Bandes „Wittgensteins Neffe“. Wie der Autor mit seiner erzählerischen Atemlosigkeit die Leserschaft an der Lungenkrankheit des Ich-Erzählers mitleiden lässt und auf knapp 150 Seiten ein krankhaftes, aber dennoch rührendes Porträt einer vernachlässigten Freundschaft (so lautet schließlich der Untertitel) malt, finde ich an sich genial.
Doch Bernhards bekannte lexikalische und syntaktische Wiederholungen, die gesteigerte Übertreibungskunst seiner Vergleiche und Metaphern, die logischen Widersprüche und die inhaltliche Bezichtigung von allem und jedem führen auch eine sprachliche Performance von Krankheit vor, sei sie des Geistes oder der Lunge. Aus diesem literarischen Exzess ergeben sich trotz der formalen Schlichtheit des Textes eine aufklärerische Verweigerung und Dekonstruktion rigider binärer Kategorien – man ist nur in der Grauzone des Weder-Noch zu Hause – und zugleich die von seinem verreckten Freund schon im Motto erbetene Grabrede, die der Erzähler nie gehalten hat. Auch nachdem ich „Wittgensteins Neffe“ scheinbar dutzendmal gelesen habe, begegne ich ihm noch immer gerne.
Alice Stasková, Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Jena
Hermann Broch: Die Schlafwandler. Hermann Brochs Romantrilogie „Die Schlafwandler“ von 1930–1932 ist ein nimmer aufhörendes Faszinosum. Denn sie ist große Kunst, sie hat ein großes Thema, und sie irritiert.
Der Roman zeigt, was die Literatur ist. Denn er vollzieht an sich selbst, was er verhandelt. Sein Thema ist nichts Geringeres als die Geschichte Europas, und das dargestellte Problem ist das Verhältnis des Individuums zu dieser Geschichte. Und da es sich um die Jahrzehnte bis zum Ende des Ersten Weltkriegs handelt, vollzieht der Roman an sich selbst den Zerfall – jenen der abendländischen Kultur, ihrer Werte und des Individuums.
Es ist die besondere künstlerische Leistung Brochs, diese so gewichtigen gedanklichen Aspekte nicht nur zu erörtern, sondern eben darzustellen: Realistisch-psychologische Prosa wird allmählich von disparat anmutenden Darstellungen auseinanderbrechender Verhältnisse abgelöst, die Erzählung wechselt sich mit philosophischen Traktaten, Gedichten und dramatischen Szenen ab. Der Roman bietet viel von dem, was die abendländische Literatur zu bieten hat – etwa großartige Erzählungen von Liebe (Broch ist ein begnadeter Erotiker) und von der Sehnsucht nach Freiheit, die mit Einsamkeit erkauft wird. Und alles ist in einer Sprache gehalten, die alle Register kennt, und in einer Form, die gleichermaßen von der Tradition wie von der Avantgarde inspiriert ist. In der deutschsprachigen Literatur ist der Roman nahezu singulär. Am ehesten fallen einem Joyce, Proust, Gide als Vergleichsbeispiele ein – oder etwa Dostojewski, der wie Broch Metaphysisches mit Kurzweiligem zu kombinieren vermag.
Und schließlich: Das Buch irritiert. Jene aufgebrochene und daher so ungemein anziehende Form prallt mit einer unerlösten Sehnsucht des Autors zusammen: der Sehnsucht nach einer neuen Ganzheit Europas und ihrer Kultur sowie nach der Einheit des Individuums mit dieser Kultur. Widerspenstig gegenüber der eigenen Botschaft lässt Brochs Roman von anderen Texten träumen, die uns von unserer Zeit erzählen, diese darstellen würden – und dabei wiederum von anderen Romanen träumen ließen. Brochs Roman macht süchtig nach Romanen – und nach der nie zu erlangenden Erkenntnis, die uns die Literatur verspricht.
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