Die Asien-Tournee des DSO (1): Im Reich der Zeichen
Das Deutsche Symphonie-Orchester tourt durch Korea und Japan. Unser Kritiker Udo Badelt ist dabei. Hier sein erster Reisebericht.
Der Tintenfisch blickt dich an. Weiß er, dass er nur existiert, um verzehrt zu werden – heute, morgen oder in einer Woche? Er und Dutzende seiner Artgenossen und dazu Heerscharen von Krebsen, Hummern, Muscheln. Und undefinierbare weißliche Krummschläuche, die aussehen, als seien es Bratwürste, die sehr lange im Wasser gelegen haben. Aber sie leben. Noch. Wimmeln, kriechen und schweben vor sich hin in weiß-bläulich schimmernden, blubbernden Aquarien, aufgereiht entlang der Haupt-Vergnügungsmeile von Ulsan, der südkoreanischen Hafenstadt am Japanischen Meer (oder der „Ostsee“, wie die Koreaner sagen).
Den Gang der Speise vom Aquarium über die Zubereitung auf den Teller verfolgen die Koreaner gerne, es ist eine ähnliche Zurschaustellung des Essens wie in Japan, das nur einen Katzensprung entfernt liegt und Korea zwischen 1910 und 1945 beherrscht hat. Nichts wird versteckt. „Alles ist geweiht“, schreibt Roland Barthes in „Das Reich der Zeichen“, „und wenn die japanische Küche sich stets vor dem Essenden abspielt (das Grundmerkmal dieser Küche), so vielleicht, weil es gilt, durch das Schauspiel den Tod dessen, den man feiert, zu heiligen.“ Barthes' Analyse japanischer Alltagskultur ist fast so gut auf Korea anwendbar, ohne Transmissionsverluste.
Noch etwas anderes erinnert an Japan: Das Grelle, die besinnungslose Buntheit der Straßen, sobald die Nacht einbricht. Der hemmungslose Glaube an Elektrizität, Energie, ans Atom. An die Macht der Botschaft, solange sie nur möglichst schrill vorgetragen wird. Doch welche Verletzlichkeit mag sich unter dieser Beglückungskultur verbergen, welche unterschwellige Aggressivität?
Ein Haus sticht besonders heraus aus der Nacht. Jedes Fenster anders gerahmt, Rot, Blau, Grün, an der Fassade pulsieren Herzen, öffnen sich Kussmünder. „Eco Motel“ heißt es. Ein Hohn. Besonders ökonomisch dürfte der Energieverbrauch des Gebäudes nicht sein.
Ein Stundenhotel, so viel scheint klar. Die Zimmer sind nach Themen dekoriert, ein Dior-Zimmer ist im Angebot, James Bond geht auch, daneben die„Titanic“-Suite. Man stolpert von Paradoxon zu Paradoxon. Wie geht diese offensive Grellheit zusammen mit der für westliche Besucher oft verstörenden Servilität der Koreaner, die die Fähigkeit besitzen, unterwürfig und unglaublich distanziert zugleich zu sein? Und wofür wirbt überhaupt der aufblasbare Fuß mit den knalligen Schriftzeichen vor der Bar, in der wir auf unsere Ankunft anstoßen?
Es gilt, sich dem völlig Fremden hinzugeben.
Zieht wirklich jemand die knisternden Fleece-Leggings aus dem Hyundai-Kaufhaus an, die sich sofort elektrostatisch aufladen? Die Toiletten sind Hi-Tech-Produkte, mindestens 15 Knöpfe stehen zur Auswahl, Temperaturregler, alles da. Aber wo ist die Spülung? Lost in Translation. Andererseits, und ein Paradoxon auch dies: Das ständige Surren der Zeichen, die man nicht versteht, führt zu einer eigenartigen Stille, zu innerem Frieden. Es gilt, sich dem völlig Fremden hinzugeben, sich ihn es hineinfallen zu lassen, sich ihm anzuvertrauen. Und zu schauen, wie weit das trägt.
Hier also, in Ulsan, beginnt das Deutsche Symphonie-Orchester (DSO) seine diesjährige Asien-Tournee, nach neunstündigem Flug im A380. Seoul Incheon Airport, dann nochmal sechs Stunden Busfahrt in den Süden der Halbinsel. Um vor allem Beethoven zu spielen. Das folgt der Logik einer langen Tradition. Seit Karajans Zeiten reisen europäische Orchester nach Asien, erst nur Japan, später auch China und Korea.
Anders als zum Beispiel Inder können Ostasiaten sehr viel mit deutscher klassischer Kultur, mit Bach, Beethoven und Brahms anfangen. Auf seltsam verschlungenen Umwegen fühlen sie sich ihr nahe, vielleicht dem nüchternen protestantischem Denken, vielleicht der Gründlichkeit, dem Tiefgründelnden. Anfangs, in den goldenen Zeiten des japanischen Wirtschaftsbooms, konnten die Orchester mit solchen Tourneen noch richtig Geld verdienen. Inzwischen geht es vor allem ums internationale Renommee des Klangkörpers. Und darum, den eigenen Horizont zu erweitern: „Es bereichert die Musiker, macht sie reifer, lässt sie anders spielen.“ Davon ist Tugan Sokhiev, Chefdirigent des DSO, überzeugt.
In Seoul existiert schon lange eine klassische Musikszene, von dort kommen die vielen koranischen Studenten, die an europäischen Musikhochschulen brillieren und in den Chören singen. Allmählich breitet sich das auch auf den Rest des Landes aus. Das Ulsan Culture Art Center ist ein klassizistisch angehauchter Betonmonumentalbau, der genauso auch in Pjöngjang stehen könnte. Gefühlt ist Nordkorea weit weg, aber dann donnern Kampfflieger über unsere Köpfe, im Einkaufszentrum shoppen Soldaten: Das Land ist immer noch im Kriegszustand, seit über 60 Jahren.
Man meint, den Musikern den Adrenalinstoß der weiten Reise anzuhören.
Tugan Sokhiev braucht nur eine Probe, um das Orchester auf Betriebstemperatur zu bringen. Das Meiste ist schon in Berlin intensiv geprobt worden, jetzt geht es hauptsächlich noch darum, die Akustik des Saals zu testen. Man meint, den Musikern den Adrenalin-Rush, den so eine Reise auslöst, anzuhören. Fiebrig, präzise, ekstatisch und kontrolliert zugleich, auf den Punkt dirigiert von Sokhiev, so spielen die Musiker die Eroica und Beethovens drittes Klavierkonzert. Solist Kun-Woo Paik langt kräftig in die Tasten, lässt kaum Raum für Transzendenz: ein sehr irdischer, handfester Beethoven. Dass er Koreaner ist, gehört zum Deal: ein Landsmann muss sein, Konzession an die hier üblichen Gepflogenheiten.
"Sie wissen so viel über uns und wir so wenig über sie"
Ist es kulturelle Kolonisation? Wird hier Koreas Kultur mit einer Kunst überformt, die 8000 Kilometer entfernt entstanden ist? Nein, diese Konzerte eignen sich nicht für Kulturkritik. Sie sind keine geschlossene Veranstaltung für einige wenige. Die Koreaner kommen in Strömen, und sie empfangen Beethoven mit offenen Armen. Jörn Tews, Europadirektor der Agentur Kajimoto, die diese Tournee veranstaltet, sieht es sogar so: „In der Antike haben die Griechen der neuen, überlegenen Macht, den Römern, ihre Kultur geschenkt. Etwas Ähnliches machen die Europäer heute: Sie schenken den Asiaten ihre Musik.“
Das koreanische Publikum ist überraschend jung.
Jung sind sie, viele Teenager in Cliquen, alles freiwillig, ohne elterlichen Zwang. Die Grauschöpfe, der sogenannte „Silbersee“, der das Parkett europäische Konzerthäuser prägt, existiert hier nicht – und das liegt nicht nur daran, dass asiatische Männer und Frauen mit einer Haarpracht gesegnet sind, die viel später oder gar nicht grau wird. Im Saal herrscht Stille, wertschätzende Konzentration. Mit dem letzten Takt aber: Emotionen, Aufschrei, Jubel. Er kommt schlagartig, nicht mit Anlauf wie in Europa. „Koreaner sind viel weniger verwöhnt, viel dankbarer für diese Musik, als wir im Westen“, wird Sokhiev später am Flughafen sagen. Und grübelt: „Sie wissen so vieles über uns. Und wir fast gar nichts über sie.“ Lost in Translation.
Wieder in die Busse, Fahrt durch die gebirgige koranische Landschaft, die in so vielem an Deutschland erinnert. Bewaldete Hügel. Autobahnen, betonierte Hänge, Tunnel, Stromtrassen, der Containerhafen von Hyundai, Wälder von Wohntürmen, gegen die Marzahn und Hellersdorf wirklich noch Dörfer sind, Hochgeschwindigkeitszüge: Südkorea ist hochindustrialisiert, erste Welt. Nur manchmal schimmert noch das Mittelalter durch.
In Daegu, der nächsten Station des Orchesters, liegt der Bahnhof gleich neben der Konzerthalle. An den Bahntrassen klebt ein Markt wie ein Bienenkorb am Mauerwerk. Offene Säcke mit Chilischoten, Berge von gefrorenem Fisch, riesige Lauchknollen. Frauen brutzeln sich ihre eigene Mahlzeit am Feuer. Ein Stück historisches Korea, wohl dem Verschwinden geweiht. Auch das zweite Konzert wird ein Triumph. Ab in die Busse. Die nächste Station heißt Japan.
Die Reise wurde vom DSO mit ermöglicht.