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Proteste der "Gilet Jaunes" am vergangenen Wochenende in Paris.
© AFP

Gelbwesten-Proteste in Frankreich: Im Herzen der französischen Gesellschaft

Erschöpfte Existenzen, leidende Körper: Wie der Schriftsteller Édouard Louis und andere Kulturschaffende in Frankreich sich mit der Bewegung der Gelbwesten solidarisieren.

„Jeder, der eine Gelbweste beschimpft, beschimpft meinen Vater.“ Unter diesem Titel veröffentlichte der Schriftsteller Édouard Louis in der Kulturzeitschrift „Les Inrockuptibles“ einige Gedanken zur Bewegung der Gelbwesten. Berliner kennen den jungen Autor seit dem Frühsommer, als die Theaterversion seines autobiografischen Romans „Im Herzen der Gewalt“ an der Schaubühne Premiere feierte. In Kürze soll die deutsche Übersetzung seines ebenfalls autobiografischen Romans „Wer hat meinen Vater umgebracht“ erscheinen: Der Schriftsteller auf der Suche nach Erklärungen für seine unglückliche Kindheit und das Leiden seines Vater unter dem „mort sociale“, seiner gesellschaftlichen Nicht-Existenz.

Zu den aktuellen Protesten schreibt Louis: „Mir fällt es schwer, den Schock zu beschreiben, den ich beim Anblick der ersten Bilder der gilets jaunes verspürte. Die Körper, die ich da sah, erinnerten mich an den Körper meines Vaters, meiner Bruders, meiner Tante. ... Menschen mit von Elend und Armut ruinierter Gesundheit, die immer wieder, an jedem Tag meiner Kindheit sagten: Wir zählen nicht; niemand spricht über uns. Deshalb habe ich mich ganz persönlich getroffen gefühlt von der Verachtung und der Gewalt, mit der sich die Bourgeoisie auf diese Bewegung gestürzt hat. Weil ich fühlte, dass jeder, der eine Gelbweste beschimpfte, damit auch meinen Vater beschimpfte.“

Es ist, als liefere die Realität in Frankreich die Bilder für einen neomarxistischen Diskurs, den Louis zusammen mit dem Soziologen Didier Eribon und dem Philosophen Geoffroy de Lagasnerie seit Monaten überall in Europa führt. Während Eribon mit seiner „Rückkehr nach Reims“ mit der Illusion aufräumt, die Arbeiterklasse sei links, und de Lagasnerie sich gegen Rechtsruck und die neue Homophobie engagiert, zeigt der Romancier Louis die seelischen Verletzungen der proletarischen Figuren aus seiner Kindheit.

Édouard Louis 2017 auf der Frankfurter Buchmesse.
Édouard Louis 2017 auf der Frankfurter Buchmesse.
© AFP/Daniel Roland

In den Klassenverhältnissen, so das neue linke Triumvirat aus Frankreich, komme eine strukturelle Gewalt zum Ausdruck. Dass deren Opfer sie nicht mehr ertragen wollen, hat in dieser Heftigkeit viele überrascht und hält die französische Medienlandschaft in Atem. Auf den Fotos in den Zeitungen, so Louis, habe er Körper gesehen, wie sie sonst nie in den Medien auftauchen: „Leidende Körper, zerstört von der Arbeit, der Erschöpfung, dem Hunger, der ständigen Demütigung durch das Verhältnis der Herrschenden zu den Beherrschten. Zerstört auch durch soziale und räumliche Ausgrenzung. Ich sah erschöpfte Körper, erschöpfte Hände, gebeugte Knochen, müde Augen.“

Ein Youtube-Video der Bretonin Jacline Mouraud war Auslöser der Bewegung. Sie sprach von den steigenden Benzinpreisen, den Steuern und der Arroganz der Machthaber in Paris. Wenn sich nun in der Provinz täglich Menschen an Kreuzungen und auf Verkehrskreiseln zu Blockaden treffen, dann lernen sich dort Bürger kennen, die Armut bislang nur als Vereinzelte erlebt haben.

Louis geißelt auch die Medienreaktion auf die Proteste: Sie würdigten die Gelbwesten herab, verurteilten sie oder machten sich lustig. „In den sozialen Netzwerken zirkulierten Worte wie ‚Barbaren’, ‚Idioten’, ‚Hinterwäldler’, ‚Chaoten’. Die Medien sprachen von Gegrunze. Die Unterschicht revoltiert nicht, nein, sie grunzt, wie die Tiere.“

La „grogne“ wurde zum Schlagwort in einer Medienlandschaft, die sich schwer tut mit der Einordnung der Bewegung. Sie ist mit keiner etablierten Partei, keiner Gewerkschaft oder gesellschaftlichen Gruppierung liiert. Natürlich versuchen sowohl Marine Le Pen und ihr Rassemblement National als auch der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon und La France Insoumise, die Gelbwesten für ihre Politik zu vereinnahmen. Aber eine wirkliche Verbindung zur Bewegung haben beide nicht. Bei einem Fernsehauftritt lobte Mélenchon die Bewegung als Beginn einer Revolution der Bürger, die umso ernster zu nehmen sei, als in ihr viele Frauen aktiv seien. Frauen stellten die letzte Instanz gesellschaftlichen Zusammenhalts dar, und schon in der Vergangenheit hätten sie Revolutionen entschieden.

Auch der Philosoph Alain Finkielkraut hat sich zu den Gelbwesten geäußert; er hält sie für einen würdigen Ausdruck der Verzweiflung über die Prekarisierung vieler Lebensverhältnisse. Brigitte Bardot ließ sich mit nach oben gereckten Daumen in einer gelben Warnweste fotografieren. Schauspieler wie Franck Dubosc wünschen per Videobotschaft viel Erfolg; der Chansonnier Pierre Perret spricht vom schlechten Lebensstandard vieler Franzosen, die Politiker seien von der Wirklichkeit abgeschnitten. Zahlreiche Fernsehmoderatoren solidarisierten sich. Und Ex-Präsident François Hollande meinte bereits Mitte November, man müsse die Wut verstehen.

Die Gelbwesten verlangen vor allem Respekt

Proteste der "Gilet Jaunes" am vergangenen Wochenende in Paris.
Proteste der "Gilet Jaunes" am vergangenen Wochenende in Paris.
© AFP

Eine Aktivistin sagte im Nachrichtenkanal LCI einen wichtigen Satz: „Macron ist König. Aber er hält zum Adel, und er missachtet sein Volk.“ Es gehört zu den Grundfesten der französischen Nation, dass der König das Volk vor der Willkür adeliger Lokalgrößen zu beschützen hat, als deren heutige Nachfolger die Oligarchen der großen Konzerne angesehen werden. Ein ungebrochener, postroyalistischer Restkonsens legitimiert für jede Französin und jeden Franzosen die Machtfülle des Präsidenten in einer zentralistischen Republik. Aber nur solange er sich um die Nöte des Volkes sorgt. Macron jedoch ließ mit diversen despektierlichen Äußerungen eine Missachtung der Unter- und Mittelschicht erkennen.

Das vor allem verlangen die Gelbwesten: Respekt. 41 Punkte umfasst die Liste ihrer Forderungen, die inzwischen weit über die Abschaffung der neuen Treibstoffsteuer hinausgehen. Viele lesen sich wie klassische Sozialdemokratie, etwa die Wiedereinführung der Vermögenssteuer. Die Rückkehr zum siebenjährigen Präsidentschaftsmandat wird ebenso genannt wie die Einführung von Volksbegehren. Eine im derzeitigen Europa zunächst zu vermutende Nähe zur neuen Rechten lässt sich kaum herauslesen; auch der Verdacht der Fremdenfeindlichkeit verfängt nicht, wenn man von spontanen Äußerungen einmal absieht.

Édouard Louis kehrt solche Kritik um und macht darauf aufmerksam, dass man ihn bei jedem neuen Roman beschuldigt habe, „das arme, ländliche Frankreich zu stigmatisieren, wenn ich von der Homophobie und dem Rassismus in meinem Heimatdorf spreche. Das waren Journalisten, die für die Unterschicht noch nie eingetreten sind und die sich plötzlich zu deren Verteidigern aufschwingen.“

Eher handelt es sich bei der Bewegung um eine Spielart des linken Populismus, der Sahra Wagenknecht und ihrem Mastermind der Bewegung „Aufstehen!“, dem Dramaturgen Bernd Stegemann gefallen dürfte. In Frankreich versucht der Philosoph Michel Onfray seit einiger Zeit, den Populismus-Begriff ins Positive zu wenden. Er sei Freund des Volkes, also Populist. Die politische Klasse um Macron aber sei ein „Populicide“, Volksvernichter. Den Begriff lancierte einst der Revolutionär Gracchus Babeuf im Jahre 1794.

An diesem Samstag, dem vierten nationalen Protesttag, könnte es erneut zu Brandsätzen und Tränengaseinsatz in der französischen Hauptstadt kommen. Ein inoffizieller Anführer der Bewegung, der LKW-Fahrer Éric Drouet, hatte im Fernsehen davon gesprochen, man wolle ins Herz der Macht vordringen, in den Élysée-Palast. Für die von der übergroßen Mehrheit der Franzosen positiv bewertete Bewegung droht eine politische Korruption durch den „Bloc Noir“, den schwarzen Block, aber auch durch die mediale Abwertung der Basisbewegung.

Louis stellt zwei Formen der Gewalt einander gegenüber

Was die für alle Revolten zentrale Gewaltfrage angeht, stellt Édouard Louis zweier Formen der Gewalt einander gegenüber. „In der politischen und medialen Sphäre wollen uns viele glauben machen, Gewalt seien nicht die Tausende von der Politik zerstörten und ins Elend gestoßenen Existenzen, sondern ein paar brennende Autos. Nur wer Armut nie kennen gelernt hat, kann denken, dass ein Graffiti auf einem historischen Gebäude schlimmer ist als die Unmöglichkeit, sich selbst zu versorgen und seine Familie ernähren zu können.“

Was wird aus der in der Provinz geborenen Bewegung der Alleingelassenen, der Mittellosen und Abgehängten, wenn sie sich auf das Theater der Politik und der Medien einlässt, in das Spiel der symbolischen Repräsentation in Paris? Am Triumphbogen? Am Élysée-Palast? Während das Fernsehen zunehmend auf telegene Wortführer zurückgreift, können sich die Gelbwesten immer noch nicht auf eine offizielle Vertretung einigen. So bleibt die zentrale Frage der Repräsentation ungeklärt, in doppelter Hinsicht.

Aber die Bewegung müsse weitergehen, fordert Édouard Louis. „Sie verkörpert etwas Gerechtes, Dringendes, Radikales.“ Die Missachtung und Verachtung von viel zu lange ungehörten Stimme habe „viele Menschen um mich herum zerstört und zerstört sie weiterhin“, Auch ihn selbst als Schriftsteller lähme diese Verachtung. „ Aber wir müssen siegen. Wir sind so viele, die sich sagen, dass eine weitere Niederlage der Linken, für alle die, die leiden, nicht mehr zu ertragen ist."

Ob die Bewegung den politischen Erfolg hat, den Frankreich für eine friedliche Zukunft braucht, hängt jetzt von der Frage ab, wie schnell Politik, Sicherheitskräfte und Demonstranten mit der neuen Situation zurechtkommen. Denn es sind nicht mehr nur die so genannten Ränder der Gesellschaft, nicht mehr nur die Banlieue, die Kinder der Immigration oder die Flüchtlinge, die die Globalisierung als Krise erleben. Das Krisengefühl rückt in die Mitte der Gesellschaft.

Eberhard Spreng

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