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Die Partei-Chefin des Front National, Marie Le Pen, bei einer Kundgebung am 1. Mai 2016.
© dpa

„Rückkehr nach Reims“ von Didier Eribon: Die Vergangenheit schlägt zurück

In seinem autobiografischen Essay beschreibt der französische Schriftsteller die Entfremdung von seiner Arbeiterfamilie und seinen Versuch, die populistische Wut der „Abgehängten“ zu verstehen.

Es war das Buch des Jahres 2016, und es wird auch 2017 ein Buch sein, das viele Menschen lesen, um sich und die Welt zu verstehen. Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ tut weh, ein notwendiger Erfolg. Nach der Lektüre fühlt man sich klüger, aber nicht glücklicher. Das Buch befreit von Illusionen, auf denen recht bequeme Existenzen aufgebaut sind. Unsere.

Der französische Schriftsteller, Jahrgang 1953, entstammt der Arbeiterklasse. Er hat einen mehrfachen Auf- und Ausstieg absolviert, davon handelt der autobiografische Essay. Der junge Didier passt nicht in die Welt der Malocher. Er ist schwul, er brennt für Literatur. Als Erster seiner Familie geht er an die Universität. Der Preis der sexuellen und intellektuellen Freiheit, der publizistisch-akademischen Karriere liegt in der Verneinung der Herkunft. Eribon beginnt in Paris ein neues Leben, im Glauben, das Milieu der Geburt für immer hinter sich zu haben.

Während er die Klasse wechselt, schlägt das Klima um

„Es dauerte, bis ich die Dinge, die ich einmal radikal aus meiner Welt entfernt hatte, wieder zu einem Teil meines Denk- und Lebenshorizonts machte.“ Eribon fürchtet die „Rückkehr“ wie eine schlimme, ansteckende Krankheit. Er kommt zu spät.

Erst als der Vater stirbt, fährt er noch einmal nach Reims, in die Stadt, in der er aufgewachsen ist. In eine veränderte Welt: Längst wählen hier Arbeiter nicht mehr traditionell kommunistisch, sondern den Front National. Ausländerfeindlichkeit hat es immer gegeben, nun gibt es dafür eine Bühne und Animateure. Was immer schon einmal gedacht wurde, wird jetzt gesagt, laut und bedrohlich. Erschreckend klar fällt die Analyse aus.

Während Eribon die Klasse wechselt – wobei der Begriff „Klasse“ aus dem politischen Leben verschwunden ist – , schlägt in Kleinstädten und auf dem Land das Klima um, es wird unfreundlich. Homosexuelle wissen, was es heißt, beleidigt zu werden. Die populistische Wut zielt gegen Politik, Medien, Intellektuelle, Künstler, das ist jetzt die verhasste Elite. Der ist nicht mehr zu trauen, die muss weg.

Eribon greift die politische Linke an

Parallelgesellschaften. Bitterer noch ist die Tatsache, dass Eribons Buch bereits 2009 in Frankreich erschienen ist. Es war alles bekannt. Niemand hat hingeschaut. Man bekommt es mit der Angst, wenn man an die 2017 bevorstehenden Wahlen in Frankreich, den Niederlanden und der Bundesrepublik denkt. Für Le Pen verbinden sich „große Teile der prekarisierten und verwundbaren Unterschicht mit Leuten aus Handelsberufen, mit wohlhabenden, in Südfrankreich lebenden Rentnern, ja sogar mit faschistischen Exmilitärs und traditionalistischen Katholiken“. Das trifft auf Trump-Wähler ebenso zu wie auf das Publikum der AfD.

Eribon greift die politische Linke an, die lieber auf Großkonzerne hört als auf ihre traditionellen Gefolgsleute. Eribon, von der Philosophie kommend, lehrt Soziologie. Er weiß, dass seine Zunft einen abgehobenen Jargon pflegt, einen Denkstil, der Menschen zu Objekten macht. Ganz frei ist sein Buch davon auch nicht.

Ein Essay mit Wiedererkennungswert

Es beschreibt den Kampf eines Intellektuellen, der lernt, seine Leute zu verstehen, denen er den Rücken gekehrt hat. Ihre Motive, ihren Schmerz. Das Schweigen der Mutter, die Grobheit des Vaters. Als Didier Eribon am Ende seiner Mutter sagt, dass er Professor für Soziologie wird, fragt die alte Frau: „Soziologie? Hat das was mit Gesellschaft zu tun?“

Seine Sexualität verbergen, sich herausquälen aus der Enge, stolz sein auf die Differenz, die Kultur ausmacht, die linke Moral – so viele erkennen sich wieder in dieser education sentimentale. Menschen vor allem um die sechzig, zumal in kreativen Berufen, spüren das plötzlich. Die Vergangenheit schlägt zurück. Die „Abgehängten“ stehen auf, fordern eine brutale Egalität. Als wollten sie sich revanchieren für das gute Leben der anderen – das die Aufsteiger sich allerdings auch hart erarbeitet haben.

Didier Eribon: Rückkehr nach Reims. Aus dem Französischen von Tobias Haberkorn. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016, 240 Seiten, 18,50 €,

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