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Der Regisseur und sein Autor. Thomas Ostermeier (links) und Édouard Louis im Foyer der Schaubühne am Lehniner Platz.
© Thilo Rückeis

Édouard-Louis-Roman an der Berliner Schaubühne: „Die Polizei hat meine Geschichte gestohlen“

Vor der Schaubühnen-Premiere von "Im Herzen der Gewalt": Ein Gespräch mit Édouard Louis und Thomas Ostermeier über sexuelle Gewalt, soziale Scham als Arbeiterkind und als Schwuler - und über die Linke.

Monsieur Louis, wenn Sie „Im Herzen der Gewalt“ auf der Bühne sehen, haben Sie noch das Gefühl, dass es Ihre eigene Geschichte ist?
ÈDOUARD LOUIS: Es ist mir wichtig, dass meine Geschichte von anderen erzählt wird. Es kommt nur darauf an, wie das geschieht. Wenn die Polizei sie in ihrer latent rassistischen Sprache wiedergibt, wenn Ärzte sie so schildern, dass ich mein Erlebnis darin nicht wiedererkenne, wird es zum Problem. Aber die Tatsache, dass jemand für dich, an deiner Stelle spricht, ist etwas Schönes. Die Polizei, die Justiz, hat mir meine Geschichte gestohlen. Wenn Thomas sie erzählt, fühlt sich das an wie eine Befreiung.

Herr Ostermeier, warum wollten Sie den Roman auf die Bühne bringen?
THOMAS OSTERMEIER: Weil es in vielfacher Hinsicht Relevanz hat. Der Gewaltakt mit all seinen Implikationen geschieht inmitten der Gesellschaft, aus bestimmten Gründen, die keine Rechtfertigung bedeuten. In Boulevardform würde die Geschichte lauten: Migrant der zweiten Generation vergewaltigt weißen Homosexuellen. Aber so wie Édouard sie erzählt, wird es mutig. Weil er sich und uns mit einer bestimmten Homophobie in Redas Herkunftskultur konfrontiert, auch mit einem Rassismus. Reda, der Kabyle, sagt: Ich hasse die Araber. Solche Komplexitäten haben in den herrschenden Diskursen der Rechten keinen Raum.

Wie „Rückkehr nach Reims“ erzählt das Buch von gesellschaftlichen Ausschlüssen.
OSTERMEIER: Édouard reist zurück in die sozial prekären Verhältnisse der Provinz, zu seiner Schwester, die in ihrem verzweifelten Wunsch, Gehör zu finden, die Geschichte des Bruders quasi kapert. Zugleich schlägt dem Erzähler Ablehnung entgegen: Aha, der feine Herr aus Paris hält sich für was Besseres. Was auf den Konflikt zwischen Stadt und Land verweist, den wir auch in Deutschland kennen und der wesentlich ist für das Erstarken des Rechtspopulismus.

Sie beide kommen aus einfachen Verhältnissen, in denen Gewalt an der Tagesordnung war. Wird man diese Prägung je los?
LOUIS: Nein, aber es ist meistens die Gesellschaft, die dich daran erinnert. Ich wache nicht morgens auf und denke: Ich bin ein Kind der Arbeiterklasse. Ich kann die Veränderungen in meinem Körper spüren. Ich wollte ein anderes Leben, ich habe meinen Namen geändert, aber die Bourgeoisie ist es, die mir auf unterschiedliche Weise vermittelt: Du wirst nie einer von uns sein. Und die Leute aus meiner Kindheit werfen mir vor: Du betrügst uns, du wirst nie ein anderer sein. Dabei ist die Frage für mich nicht: Können wir uns verändern?

Sondern sie lautet?
LOUIS: Warum kämpft die Gesellschaft so sehr dagegen an? Was glaubst du, wer du bist? Diesen Satz habe ich von klein auf immer wieder gehört. Es ist aber eine gute Sache, eine Idee von sich selbst zu entwerfen. Weil darin die Möglichkeit zur Entwicklung und Veränderung liegt. Als ich nach Paris zog und mit Menschen aus privilegierten Kreisen zu tun hatte, dachte ich oft: Die wissen gar nichts über das Leben. Mit „Im Herzen der Gewalt“ wollte ich sie daran erinnern, dass ihre Existenz bedingt ist durch die Menschen am anderen Ende des Spektrums.

OSTERMEIER: Ich erinnere mich an einen Moment, als ich dem damaligen Kulturstaatsminister vorgestellt wurde. Als ich mich dem Tisch näherte, flüsterte jemand an dessen Seite ihm hörbar ins Ohr: Achtung, das ist ein Emporkömmling, ein arriviste, wie die Franzosen sagen. Ein bourgeoiser Ausdruck für Menschen, die in ihre Klasse eindringen. In den 80er Jahren gab es noch das sozialdemokratische Projekt „Arbeiterkinder an die Gymnasien“, einen sozialen Lift für die Talentierten. Im Grunde das kapitalistische Prinzip: Survival of the fittest. Interessanterweise gilt dieses Diktum gar nicht mehr. Es geht jetzt darum, die eigene Klasse gegen Aufsteiger abzuschotten.

Sie zählen doch zu denen, die es geschafft haben, wie man so sagt.
OSTERMEIER: Ich habe mein kleines Studenten-Apartment in Neukölln, das ich für 120 Mark im Monat gemietet hatte, auch dann noch behalten, als ich die Schaubühne übernahm und in Charlottenburg lebte. Weil ich dachte: Das ist nach zwei oder drei Jahren vorbei. Der Aufsteiger lebt in der permanenten Angst, wieder ausgeschlossen zu werden. Das führt zu Verunsicherung und damit zu Verstößen gegen die sozialen Codes der Klasse, der er angehören will.

Ein zentrales Motiv in Ihren Büchern ist die Scham. Woher rührt die?
LOUIS: Meine Geschichte als Arbeiterkind und als schwuler Mann ist eine Geschichte der Scham. Es ist aber wichtig, über die Scham zu sprechen, weil sie dich isoliert und dir das Gefühl gibt, allein auf der Welt zu sein. Dabei hat fast jeder an einem bestimmten Punkt seiner Biografie in Scham gelebt. Mein Vater hat immer gesagt: Ein echter Mann weint nicht. Aber natürlich hat er geweint. Wir sind umgeben von Regeln, nach denen wir nicht leben und denen unsere Körper nicht folgen können.

Auch die Opfer sexueller Gewalt empfinden Scham.
LOUIS: Als ich „Im Herzen der Gewalt“ schrieb, hatte ich Angst, weil ich nicht als vergewaltigte Person betrachtet werden wollte. Ich wollte nicht, dass mein Vater mich so sieht, ich wollte nicht darauf reduziert werden. Das ist ein Quell der Scham. Ein anderer ergibt sich aus den Mechanismen, die greifen, sobald man über sexuelle Gewalt spricht. Viele Menschen glauben dir nicht, oder geben dir selbst die Schuld. Meistens sind es Frauen, die diese Erfahrung machen müssen. Ich habe viel feministische Literatur gelesen, ich wusste um diese Problematik. Aber eben nur theoretisch. Nach der Vergewaltigung geschieht ein weiterer Akt der Enteignung durch ein System, das keine Entscheidungsmöglichkeit für das Opfer vorsieht.

Die gesellschaftlichen Spaltungen, die entlang dieser Geschichte aufscheinen, lassen auf einen sozialen Krieg schließen.
OSTERMEIER: Die Situation verschärft sich. Es ist statistisch belegbar, dass die Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs heute limitierter sind als in den 80er Jahren. Dieses deutsche Erfolgsnarrativ – wir sind nahe an der Vollbeschäftigung, haben ein glänzendes Bruttosozialprodukt, sind die stärkste Industrienation Europas – überblendet, dass es um die Gesellschaft sozial betrachtet schlechter steht als vor 20 Jahren. Wir schließen die weniger privilegierten Schichten radikaler aus. Darin liegt ein Grund für den Erfolg der neuen Rechten.

LOUIS: Ich finde es absolut notwendig, mit Menschen wie Macron oder Trump in den Konflikt zu gehen, mit den Rechten, die uns bekämpfen. Wir müssen zurückschlagen, mit unseren Mitteln. Dass unsere Welt gegenwärtig so gewalttätig ist, ist auch das Verschulden einer Linken, die uns weisgemacht hat, es gäbe keine Diskriminierung, keine Klassenkonflikte. Jemand wie meine Schwester fühlt, dass das eine Lüge ist, dass ein sozialer Krieg gegen sie im Gange ist.

Wie lässt sich dagegen angehen?
LOUIS: Indem wir neue Bilder und ein neues Vokabular schaffen. Auch das ist ja ein Versäumnis der Linken, dass sie über die Arbeiterklasse in einem verstaubten 50er-Jahre-Jargon redet, in dem sich niemand mehr wiederfinden kann. Es braucht eine komplexere Sprache. Wir müssen über gesellschaftliche Klassen heute mit Blick auf Gender, Maskulinität, Homophobie, Rassismus sprechen – statt allgemein Armut zu thematisieren.

Zum Stück:
In seinem autobiografischen Roman Im Herzen der Gewalt (S. Fischer) beschreibt der heute 25-jährige französische Schriftsteller Édouard Louis die Folgen einer Zufallsbegegnung. Nach einer leidenschaftlichen Nacht eskaliert die Situation, als der Erzähler den Mann bei einem Diebstahl ertappt. Es kommt zu Mordversuch und Vergewaltigung. Was danach geschieht, führt tief ins Spannungsfeld aus Homophobie, Rassismus und sozialer Spaltung. Schaubühnen-Leiter Thomas Ostermeier – der zuletzt mit seiner Bearbeitung von Didier Eribons "Rückkehr nach Reims" zum Theatertreffen eingeladen war – bringt „Im Herzen der Gewalt“ jetzt auf die Bühne. Louis hat die Proben in den vergangenen Tagen in Berlin begleitet. Premiere ist an diesem Sonntag in der Schaubühne am Lehniner Platz.

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