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Blick in ein vorweihnachtliches Frachtzentrum der Deutschen Post in Nürnberg.
©  dpa

Kulturgeschichte des Pakets: Ihre Sendung ist unterwegs

Sie werden immer mehr. Und zu Weihnachten werden besonders viele von ihnen verschickt. Sie sind Verheißung, Bedrohung und Lebensretter. Eine kleine Kulturgeschichte des Pakets.

Meine Oma schickte zu Weihnachten immer ein Paket an die West-Berliner WG. Mit Stollen und Zimtsternen, klar, aber Kaffee, Kakao und Rosinen packte sie auch immer dazu. Berlin, das war Frontstadt für meine Oma, irgendwie bedürftig, noch in den achtziger Jahren. Heute werden in Deutschland jährlich an die drei Milliarden Pakete und Päckchen verschickt, ein Großteil davon geht auf den Online-Handel zurück. Die Welt ist digital geworden, aber am Ende materialisiert sie sich doch. Wenn der schwer bepackte Postbote klingelt, ist das Internet der Dinge wieder eine Frage des Gewichts wie einst zur Postkutschenzeit.

Jedes Paket ist eine Verheißung. Was ist wohl drin? Wird mein Wunsch erfüllt? Oder prosaischer: Wird das Bestellte geliefert? Der Mensch packt gern aus und lüftet Geheimnisse, ritualisiert das Freud’sche Fort-Da-Spiel zum Fest. Am liebsten würden wir alle wie Kinder das Geschenkpapier aufreißen.

Damit es jetzt nicht zu advents-rührselig wird: Die Neugier kann auch in Angst umschlagen. „Toni Erdmann“, der schönste Film des Jahres, beginnt genau so: Der Paketbote klingelt und Peter Simonischek alias Winfried holt seinen angeblichen Bruder Toni Erdmann an die Haustür, während der dem Boten verrät, dass Toni wegen Paketbomben im Knast saß – ein böser Spaß. Pakete sind der Einbruch des Unsichtbaren in die sichtbare Welt, Objekte der Begierde wie der Angstlust.

Das Paket als Gewaltakt

Manchmal lauert der Horror darin. Du öffnest das Ding, und dein Leben fliegt dir um die Ohren. In David Finchers US-Thriller „Seven“ lüftet Morgan Freeman mit einem Messer den Deckel vom Pappkarton, den der Serienmörder geschickt hat, während Brad Pitt „What is in the box?“ brüllt und wie ein Derwisch herumtobt. Der Kopf seiner Frau liegt darin. „Das Paket“ heißt auch ein kürzlich erschienener Krimi von Sebastian Fitzek, in dem der Zusteller eine Lieferung für den Nachbarn abgibt, einen unbekannten Nachbarn. Anfang eines Albtraums: das Paket als Gewaltakt, als Provokation.

Apropos Nachbarn. Bei der Online-Bestellung kann man den Wunsch-Nachbarn angeben, schönes Wort. Vor Feiertagen behelligt man sie ständig. Im Advent stapeln sich die Pakete der anderen im Wohnungsflur, das Mehrfamilienhaus wird zur fröhlichen – und manchmal entnervten – Tauschgesellschaft, mit dem Späti um die Ecke als Zwischenlager. Pakete verbinden.

Begonnen hat es im 17. Jahrhundert, mit der Fahrpost von Thurn und Taxis. Diskretion war Ehrensache, alle Pakete wurden versiegelt, mit der Erfindung der Eisenbahn fiel die Gewichtsobergrenze. In Amerika, dem Land der großen Entfernungen, nahm die organisierte Postverschickung Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem kalifornischen Goldrausch ihren Anfang. Pony Express übernahm die Briefe, Wells Fargo die Pakete. Als Kundenbonus winkten Gratiszeitungen, weshalb die Nachricht von der Wahl Lincolns zum Präsidenten nur fünf Tage von Washington bis an die Westküste brauchte. Wells Fargo, man denkt sofort an die Westernstadt mit Saloon, Bank und Poststation. Überhaupt, was wäre der gute alte Western ohne den Postkutschenüberfall. Noch heute spielen UPS-Wagen, Geld- und andere Transporter im Actionkino eine wichtige Rolle.

Die fünfjährige Charlotte May Pierstorff ging als Paket auf Reisen. Es war billiger.

Im 20. Jahrhundert war Paketpost in den USA derart billig geworden, dass Studenten günstiger wegkamen, wenn sie ihre schmutzige Wäsche zu Mama schickten, als sie in die Reinigung zu geben. Der Parcel Post Service entwickelte eigens Metallboxen dafür, eine bis 1960 übliche Praxis. Die skurrilste Story ist die der fünfjährigen Charlotte May Pierstorff. 1914 ging das Kind als Paket auf Reisen, von Idaho zur Großmutter nach Lewiston. 75 Meilen mit Briefmarken auf dem Mantel und Stempel auf dem Rücken, so erzählt es das Kinderbuch „Mailing May“ von 1995. Ein normales Zugticket konnten die Eltern sich nicht leisten. Danach wurde es verboten, Menschen aufzugeben.

Wie die Welt wohl für die kleine May ausgesehen hätte, wenn sie nicht als Paket, sondern im Karton gereist wäre? Das Schweizer Künstler- und Medienkollektiv Bitnik machte am 16. Januar 2013 die Probe aufs Exempel, mit der britischen Royal Mail, dem ältesten Liefersystem der Welt, es existiert seit 500 Jahren. Die Gruppe stattete ein Paket mit Kamera, GPS und Papploch aus, gab es in London auf und adressierte es an den Wikileaks- Gründer Julian Assange in seinem Asyl in der Ecuadorianischen Botschaft. „Delivery for Mr. Assange“, ein 36-Stunden-Livestream, zeigt verwackelte Bilder von den Beinen der Boten, der Dunkelheit im Postsack, der Anonymität der Verteilerzentren. Der Empfänger hält Karteikarten mit Botschaften in die Kamera. The package is the message, eine Kunstaktion über Freiheit, Kontrolle und Kommunikationswege im Internetzeitalter.

Die Zustellunng von Milliarden Paketen: Kafkaesk

Blick in ein vorweihnachtliches Frachtzentrum der Deutschen Post in Nürnberg.
Blick in ein vorweihnachtliches Frachtzentrum der Deutschen Post in Nürnberg.
©  dpa

Nicht alle Pakete erreichen ihr Ziel. Die Sendungsverfolgung: ein beliebter Volkssport. Zurück an den Absender, die Retourkutsche, weil der Zusteller mal wieder keinen ordentlichen Zettel im Briefkasten hinterlassen hat: ein ständiges Ärgernis. Als ob die Logistik von Milliarden Paketzustellungen alleine in Deutschland nicht kafkaesk wäre, schlicht unvorstellbar.

Pakete sind Fernbeziehungen, die Nähe herstellen. Die schönste „Return to sender“-Geschichte hat Erich Kästner erfunden, in „Das fliegende Klassenzimmer“. Martin Thaler, der Klassenprimus, der trotzdem nett ist, muss an Weihnachten im Internat bleiben, weil ihm das Geld für die Bahnfahrt nach Hause fehlt. Die traurigen Eltern schicken ein Paket – Wollsocken, Lebkuchen, Buntstifte, ein Buch über die Südsee, die Kostbarkeiten der 30er Jahre –, aber als der Junge doch noch das Fahrgeld geschenkt bekommt, nimmt er das ungeöffnete Paket mit auf die Heimreise. So kann er es unter dem Weihnachtsbaum öffnen, bei Mutter und Vater. Wohl dem, der keinen Boten braucht: ein deutsches Familienidyll.

Inzwischen geht es mit der Automatisierung rapide voran. Paketstationen vorm Supermarkt, die immer ein wenig wie Urnenwände aussehen, bieten 24- Stunden-Service für mobile Zeitgenossen. Am letzten Donnerstag brachte in Großbritannien die erste vollautomatische Amazon-Drohne einem Kunden in Cambridge die eben bestellte Ware. Lieferzeit 13 Minuten, für eine Tüte Popcorn und einen Streaming-Stick. Ein Glückstag für rückengeschädigte Boten? Noch können Drohnen nur leichte Sachen transportieren, noch sind es Testflüge. Endgültig wird der Mensch, der das ganze Zeug schleppen muss, wohl nie abgeschafft.

Pakete sind Vorsorge, Fürsorge

Wer heute Paket sagt, meint oft etwas anderes. Datenpakete bündeln die Bits und Bytes im Netz, Versicherungspakete lassen einen ruhiger schlafen, das Rundum-Sorglos-Paket sowieso. Die Angelsachsen sagen package tour zur Pauschalreise. Der moderne Zeitgenosse hat es gern handlich, vorsortiert und zusammengeschnürt. Pakete sind Dienstleister, Vorsorge, Fürsorge. Hilfsgüter für Bedürftige, nicht nur bei Kästner oder in Idaho. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Millionen Europäer über die legendären Care-Pakete mit Nahrung beliefert. Die ab März 1947 standardisierte Ausstattung enthielt unter anderem Kraftbrühe, Steaks, Speck, Kaffee, Schokolade, Rosinen, Eipulver – 40 000 Kalorien das Stück. Die Berliner Luftbrücke, die Rosinenbomber, sie hatte wohl auch meine Oma im Sinn, später in den Achtzigern.

Oder sie dachte an die Westpakete, Berlin lag für sie weit im Osten. Der Kapitalismus intervenierte mit Nylons und Seidenblusen im sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat, die Statistik verzeichnet jährlich 25 Millionen Sendungen an die Verwandtschaft hinter der Mauer. Ganze Bücher wurden darüber geschrieben. Ob Freundschaftsgabe, Sozialneid oder Familienzusammenführung via Konsum: Das Paket verband auch die Deutschen. Ohne die Gaben aus dem Westen wäre die Mauer vielleicht früher gefallen.

Solange ich ein Paket ausliefern kann, lebe ich

Wer in Finnland ein Baby bekommt, kann übrigens ab dem 154. Schwangerschaftstag ein Mutterschaftspaket beim Staat beantragen, mit Schneeanzug, Strampler, Body, Bettzeug, Windeln, Bilderbuch etc. Der Karton ist groß genug, um ihn für die ersten Wochen als Wiege zu benutzen, viele Finnen haben ihr Erdendasein tatsächlich im Paket begonnen. Für die Eltern finden sich sogar Brustwarzensalbe und Kondome in der Baby Box. Mehr Fürsorge geht kaum.

Pakete können auch buchstäblich Leben retten. In Robert Zemeckis Kino-Robinsonade „Verschollen“ landet der Kurierdienst-Angestellte Chuck Noland (Tom Hanks) als einziger Überlebender eines Frachtflugzeugabsturzes auf einer Südsee(!)-Insel, zusammen mit zahlreichen FedEx-Paketen, die er nach und nach öffnet. Aus dem Schlittschuh bastelt er ein Beil, und dem Volleyball verpasst er ein Gesicht, er wird sein Freitag, sein treuer Gefährte. Noland überlebt dank der Pakete. Nur eins lässt er verschlossen, nimmt es nach vier Jahren Einsamkeit mit auf sein Floß, wird gerettet und bringt es der Empfängerin in Texas. Das Paket ist sein Wechsel auf die Zukunft gewesen, seine Existenzgarantie. Ich kann es ausliefern, also überlebe ich. Es gibt einen Absender, es gibt einen Adressaten, ich bin nicht allein. Was in dem Paket ist, erfährt der Zuschauer nie. Eine Black Box des Glücks. Den Karton ziert das Logo der Firma, zwei Engelsflügel.

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