Gala zum Europäischen Filmpreis 2014: Ida, Eva und die anderen
Preisregen für "Ida": Die Europäische Filmakademie zeigt sich bei ihrer Gala in Riga einseitig großzügig. Das streng stilisierte Schwarzweiß-Drama von Pawel Pawlikowski erzählt von einer katholischen Nonne mit jüdischen Wurzeln.
Ein Hauch von Hof geistert an diesem diesigen Morgen durch das Opernhaus von Riga, in dem sich die Spitze der Europäischen Filmakademie (EFA) den Fragen der örtlichen Presse stellt. EFA-Präsident Vim Venderss – so steht’s fein lettisch transkribiert auf dem Podiumsschildchen – preist die „europäische Filmfamilie“, die in der lettischen Hauptstadt eher zur Feier der Gemeinsamkeit denn zum Kräftemessen zusammenkomme. Und auch Geschäftsführerin Mariona Doringa, eigentlich Marion Döring, setzt aufs selbe Mantra: „celebration“ statt „competition“.
Warum Hof? Bei den Hofer Filmtagen im nordöstlichen Oberfranken trifft sich seit Jahrzehnten die eher rustikale deutsche Filmfamilie, und das kleine Festival, das allerhand Allerneuestes aus heimischen Filmlanden präsentiert, verzichtet so weise wie familienfreundlich auf einen Wettbewerb. Der Europäische Filmpreis dagegen wird, nach komplizierter Nominierungsprozedur und in über 20 Kategorien, in diesem Jahr zum 27. Mal vergeben. Während Wim Wenders offen bekennt, man diskutiere in der Akademie immer mal wieder über die Abschaffung des Wettbewerbs, plädiert die neue Vorstandschefin Agnieszka Holland denn doch kurzerhand für Konkurrenz: „Wettbewerb liegt in der menschlichen Natur.“
Zwischen wohliger Wärme und dem kühlen Willen zum Sieg pendelt auch die Temperatur am Sonnabend, als in der lettischen Hauptstadt die silbernen Statuetten in den Kernkategorien nahezu ausnahmslos an den polnischen Kandidaten „Ida“ gehen. Da philosophiert zwar Timothy Spall, Preisträger für seine Hauptrolle in Mike Leighs famosem „Mr. Turner“, charmant über die Unmöglichkeit, eine Banane mit einer Ananas zu vergleichen. Und hält sich im „Fruchtkorb namens Kunst“ selber für einen „alten Londoner Apfel“. Andererseits setzen die Organisatoren für die Übergabe des Hauptpreises diesmal auf ein - gelinde gesagt - sonderbares Prozedere. Protagonisten aller fünf Kandidaten für den Europäischen Film des Jahres rühmen auf der Bühne die eigenen Werke und öffnen alsdann vor aller Augen gleichzeitig die ausgehändigten Umschläge. Vier Nieten und ein Hauptgewinn: Wenn das kein ultimativ stimmungsdämpfender Wettbewerb ist!
"Ida": ein untadeliges cineastisches Kunstwerk
Dennoch: Niemand missgönnt dem in London lebenden Polen Pawlikowski, der nach Dokumentarfilm-Erfolgen in den Neunziger Jahren bald mit „Last Resort“ und „My Summer of Love“ zum Spielfilm wechselte, seine Preise für "Ida". Der Film des 57-Jährigen um eine im Waisenhaus aufgewachsene Novizin, die kurz vor ihrem Gelübde erfährt, dass sie die Jüdin Ida Lebenstein ist, deren Eltern von polnischen Bauern ermordet wurden, ist ein untadeliges cineastisches Kunstwerk. In Schwarzweiß gedreht, in der politischen Strenge an den frühen Andrzej Wajda und der gebändigten Wucht der Figuren an den frühen Roman Polanski erinnernd, berührt die 1962 spielende familiäre Spurensuche präzis und mit hochwirksamer Zartheit die Narbenfelder des Antisemitismus, Katholizismus und Kommunismus. Brillant in den Hauptrollen: die Debütantin Agata Trzebuchowska als Klosterschülerin - und Agata Kulesza als ihre so lebensdurstige wie lebensmüde Tante, eine einstige Richterin in den Nachkriegs-Schauprozessen, die das junge Mädchen auf der Reise in die Vergangenheit begleitet.
Kaum 20 000 Zuschauer – gegenüber dem nahezu Dreißigfachen in Frankreich, und selbst in den USA spielte der Film respektable vier Millionen Dollar ein – hat die bereits vielfach ausgezeichnete „Ida“ in Deutschland ins Kino locken können: eines der zahlreichen Armutszeugnisse für die hierzulande nie so recht zu Kräften kommende Filmkultur. Im April im Kino gestartet, ist „Ida“ zwar längst auf DVD erhältlich; vielleicht aber ermutigt der durchschlagende Erfolg von Riga ja den Verleih und manchen Kinobetreiber, den außergewöhnlichen Film erneut auf der großen Leinwand zu zeigen. Denn mehr als 3000 in der Filmakademie dieses Kontinents versammelte prominente Filmkünstler und Festivalorganisatoren sollten nicht irren – jedenfalls nicht gänzlich.
Keine Chance für Ceylans Cannes-Sieger "Winterschlaf"
Verblüffend allerdings bleibt, dass keiner der vier anderen jeweils in mehreren Kategorien nominierten Kandidaten für den besten europäischen Film auch nur eine einzige Trophäe erobert. Sogar einen Publikumspreis holt „Ida“, sogar gegen die prächtig populäre „Philomena“ mit Judi Dench – weshalb Pawel Pawlikowski sein Erstaunen über die frische Liebe des via Internet abstimmenden Publikums zu Schwarzweiß und starrer Kamera sogleich in ein scherzhaftes Lob auf die Demokratie verwandelt. Keine Chance also für Nuri Bilge Ceylans Cannes-Sieger „Winterschlaf“, keine Chance für Lars von Triers radikalen Sex-Albtraum „Nymphomaniac“. Auch keine Chance für das leidenschaftlich diskutierte schwedische Ehedrama „Höhere Gewalt“, mit dem Regisseur Ruben Östlund nach den Worten seines Hauptdarstellers Johannes Kuhnke nicht nur die tollste Lawine aller Zeiten auf die Leinwand zaubern, sondern auch die europäischen Scheidungsraten in die Höhe treiben will.
Richtig schmerzhaft wird die kollektive No-Show der „Ida“-Konkurrenten angesichts von Andrej Swjaginzews „Leviathan“. Der Russe, der vor zehn Jahren mit seinem fulminanten Debüt „Die Rückkehr“ in Venedig den Goldenen Löwen gewann und seitdem einen großen Film nach dem anderen dreht, erzählt eine dramatisch voranschreitende Familienkatastrophe vom nördlichen Rand der Welt, die man politisch, religiös und philosophisch lesen kann – und zugleich immer poetisch sieht. Der Film, in Cannes mit dem Drehbuchpreis ausgezeichnet und bisher weder in seiner Heimat noch in Deutschland im Kino, ist Russlands Oscar-Kandidat. In Riga wurde leider die Gelegenheit verpasst, ein überwältigendes Werk auszuzeichnen, das anders als „Ida“ von der Gegenwart spricht – in einer ästhetisch genuin europäischen Tradition. Politisch allerdings driftet Russland derzeit davon – und da mag es dann auch in den besten Filmfamilien vorkommen, dass man gefühlte Außenseiter einfach draußen lässt.
Freude über Dokumentarfilmpreis für Marc Bauder
Was bleibt sonst von diesem lettischen EFA-Ausflug? Die Freude deutscherseits über den Dokumentarfilmpreis für Marc Bauders Investmentbanker-Psychogramm „Master of the Universe“: eine deutsch-österreichische Produktion von eben jenem Regisseur, der mit seinem Bruder die „Lichtergrenze“ zum Mauerfall-Jubiläum am 9. November inszeniert hatte. Außerdem erwähnenswert: Moderator Thomas „Quatsch Comedy Club“ Hermanns, neu nach der splendiden fünfjährigen Regentschaft Anke Engelkes, führt sich neckisch als „offen schwuler deutscher Komiker“ ein, fällt aber sonst vor allem durch seinen eher sämigen deutschen Akzent in der Gala-Sprache Englisch auf. Und: Die EFA will wieder intensiver über einen Namen für ihre schlanke Statuette nachdenken – trotz der Nöte mit den Bedeutungsunterschieden gleicher Wörter in den europäischen Sprachen. Ida zum Beispiel geht eher nicht; es gibt da einen dänischen Thriller namens „ID:A“, Abkürzung für „Identität: Anonym“. Wie wär’s, ganz einfach, mit Eva?
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