"Five Easy Pieces" in den Sophiensaelen: Ich war dreizehn
Kinder spielen Entführungsopfer: Milo Rau bringt seine „Five Easy Pieces“, in denen er sich mit dem belgischen Verbrecher Marc Dutroux beschäftigt, in die Sophiensaele.
„Was bedeutet Theater für dich?“, fragt der Schauspieler Peter Seynaeve seine Kollegen. „Das ist ganz einfach“, winkt einer von ihnen, Winne Vanacker, lässig ab. „Theater ist wie Puppenspiel, nur mit echten Menschen statt mit Marionetten.“ Chapeau: So klar hat bis dato selten jemand seine Vorstellungen von der Bühnenkunst auf den Punkt gebracht.
Winne Vanacker ist eines von sieben Kindern zwischen acht und 13 Jahren, die Milo Rau für sein jüngstes Projekt „Five Easy Pieces“ gecastet hat. Der Abend – eine Zusammenarbeit mit dem Genter Art Center Campo, das auf Theater mit Kindern für erwachsene Zuschauer spezialisiert ist – wurde im April beim Brüsseler „Kunstenfestivaldesarts“ uraufgeführt und ist jetzt für drei Tage in den koproduzierenden Berliner Sophiensaelen zu sehen. Eine der ruhmreichen Vorgängerproduktionen von Raus „Five Easy Pieces“ – Gob Squads Koproduktion „Before Your Very Eyes“ mit der international renommierten belgischen Institution – war 2012 beim Berliner Theatertreffen zu sehen: Kinder, die auf ihr Leben vorausschauen und sich selbst mit zwanzig, vierzig, siebzig Jahren spielen.
Die Geschichte anhand eines Mörders erzählen?
Für ihn und sein Team sei von Anfang an klar gewesen, dass sie „etwas ganz anderes versuchen“ wollen: „Das zeigen, was man von Kindern nicht sehen will“, hatte Rau, selbst Vater zweier Töchter, im Vorfeld erklärt. Sein Abend beschäftigt sich mit Marc Dutroux, dem belgischen Mörder und Sexualstraftäter, der bis Mitte der Neunziger mehrere Kinder und Jugendliche entführt, missbraucht und zum Teil grausam getötet hat.
Schon während der Arbeit an seinem früheren Stück „The Civil Wars“ in Brüssel sei er auf Dutroux als (negativen) „nationalen Mythos“ gestoßen, erklärt der Regisseur. Dutroux, der als Kind in der ehemaligen belgischen Kolonie Kongo lebte, wo sein Vater als Lehrer arbeitete, und dessen Prozess, so Rau, „fast zur Implosion Belgiens und zum Aufstand der Zivilgesellschaft gegen die eigenen korrupten Eliten führte“, sei „beinahe eine Allegorie auf den Abstieg der westlichen Kolonial- und Industriemächte“. In jedem Fall ließe sich „an ihm und durch ihn eine Geschichte Belgiens erzählen“.
Die Frage, ob man das allerdings mit Kindern tun dürfe, hatte angesichts der Brüsseler Uraufführung nicht nur die (deutsche) „Bild“-Zeitung beschäftigt. Sie war auch ausgiebig in belgischen Talkshows erörtert worden. Medienwirbel ist ja ein fundamentaler Bestandteil von Milo Raus Theaterarbeit; nicht erst seit den „Moskauer Prozessen“ mit Jekaterina Samuzewitsch von Pussy Riot 2013 in der russischen Hauptstadt.
Ein ambivalentes Zuschaugefühl
Im Fall der „Five Easy Pieces“ löste sich die mediale Aufregung nach der Premiere weitgehend in Begeisterung auf. Die Kritiker-Jury des belgischen „Prix de la Critique Théâtre et Danse“ erkannte Rau für sein „rücksichtsloses Genie“ soeben den Spezialpreis zu. Tatsächlich ist „Five Easy Pieces“ ein sehr komplexer Abend. Sein produktives Verstörungspotenzial bezieht er daraus, auf der Folie der Dutroux-Thematik permanent die Bedingungen des Theaterspielens selbst auszuleuchten – Kategorien wie Einfühlung, Authentizität, Katharsis. Dieses Meta-Thema treibt Rau schon länger um, tritt hier allerdings konzeptschärfer zutage als etwa in seiner jüngsten Berliner Arbeit „Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs“ in der Schaubühne.
Einzig erwachsener Darsteller in „Five Easy Pieces“ ist Peter Seynaeve: eine Art Abendregisseur und Spielleiter für die sieben Kinder und Jugendlichen – und die Projektionsfläche für Erwachsenen-Autorität schlechthin, mithin auch für ihre prinzipielle Missbrauchsmöglichkeit. Ein höchst ambivalentes Zuschaugefühl! In fünf Szenen – die „Five Easy Pieces“ beziehen sich auf Strawinskys gleichnamige Komposition zum Klavierlernen für Kinder und auf Marina Abramovics Reenactment ikonische Performance-Aktionen „Seven Easy Pieces“ – wird das Sujet Dutroux umkreist. Wobei der Text auf veröffentlichten Quellen, aber auch auf eigenen Gesprächen von Raus Team mit Eltern von Entführungsopfern, mit Polizisten oder mit Dutroux’ Vater basiert.
Schwer zu ertragene Niederschriften von entführten Kindern werden vorgetragen
In die Rolle des Letzteren schlüpft im ersten Teilstück ein Junge, der bereits bekundet hatte, am liebsten Figuren zu spielen, die alt oder anderweitig weit von seinem eigenen Leben entfernt seien. Das macht er auch unglaublich gut – nachdem er sich vorab vor allem um die Überzeugungskraft seines Alters-Make-ups gesorgt hatte. Auf dessen Herstellung wird angemessen viel Zeit verwendet: Die Zuschauer sehen sämtliche Szenen in ihrer Verfertigung – als Live-Drehs, zwischen denen mit Peter Seynaeve immer wieder locker über die eigenen Eltern, über Hobbys, Haustiere oder belgische Geschichtskenntnisse geplaudert wird.
Für die erwachsenen Zuschauer sind die Szenen, in denen etwa ein achtjähriges Mädchen den Brief eines entführten Kindes vorträgt – tatsächlich eine Kompilation aus Niederschriften verschiedener Entführungsopfer –, schwer zu ertragen: „Liebe Mama, falls ich nicht zurückkomme, sag Papa bitte, dass er meinen Radiowecker haben kann, und ihr beide könnt euch die Sachen aus meinem Zimmer teilen. Nur werft bitte nichts weg.“
Für die (sensationell) spielenden Kinder, die über die komplette Probenzeit psychologisch begleitet wurden, seien die wesentlichen Fragen hingegen seltener inhaltlicher Natur gewesen, sagt Rau. Die größere Sorge lautete: Was mache ich, wenn ich auf der Bühne meinen Text vergesse?
Vom heutigen Freitag bis Sonntag, 3. Juli, 19.30 Uhr in den Sophiensaelen
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