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Engländerin in Berlin. Katy Derbyshire lebt hier seit 20 Jahren.
© Doris Spiekermann-Klaas

Eine Britin in Berlin: „Ich schäme mich für dieses Land“

Wie fühlt es sich an, Britin zu sein und zu sehen, wie sich das Land über die Klippe stürzt? Katy Derbyshire lebt seit 20 Jahren in Berlin und berichtet.

Das Land, in dem ich geboren und aufgewachsen bin, dessen Pass ich besitze, hat mir vor fünf Jahren das Wahlrecht abgenommen. Nach fünfzehn Jahren im Ausland darf man dort nicht mehr abstimmen. Inzwischen haben 52 Prozent der dortigen Wähler dafür gestimmt, das Land von Europa abzuschotten. Über die Hälfte der britischen Wähler hat eine verlogene, planlose Kampagne, die Ängste vor Immigration bis hin zum Mord geschürt hat, mit ihrer Stimme belohnt. Ich schäme mich für dieses Land.

Ich schäme mich schon lange für die historische Bürde, die mit der britischen Staatsbürgerschaft einhergeht: Kolonialismus, Rassismus, die Unterdrückung der Iren, die Unterstützung der Apartheid- Regime. Sklaverei, Aushungern und Massenmord zum Zwecke der Bereicherung. Und auch heute leben Menschen in Großbritannien, die die angeblichen Vorzüge des Kolonialismus für die Kolonisierten loben. „Es war nicht alles schlecht. Denkt an die Eisenbahnen.“ Laut einer Umfrage von Januar 2016 sind 44 Prozent der befragten Briten stolz auf die Kolonialvergangenheit.

Bis jetzt hat es bei mir ganz gut geklappt mit der Verdrängung. Ich bin vor 20 Jahren nach Berlin gezogen und musste mich nur aus der Ferne über das Land ärgern. Und ich will hier bleiben, ich liebe diese Stadt, ich habe hier meine Freunde und mein Kind und ich fühle mich hier zu Hause. Ich liebe die deutsche Sprache, die Literatur, sogar das Essen und manchmal den Humor. Allerdings hatte ich mich bis jetzt um die Beantragung der deutschen Staatsbürgerschaft gedrückt.

Dieses diffuse Gefühl, nicht ganz dazugehören zu wollen. Ich wollte nicht noch eine ganze Ladung historisches Gepäck auf den Buckel packen. Ich wollte nicht sagen: ja, ich fühle mich als Deutsche, ich nehme nicht nur den Kolonialismus, sondern auch noch den Nationalsozialismus. Ich nehme nicht nur Ukip, sondern auch Pegida. Ich nehme nicht nur Enoch Powell, sondern auch Hoyerswerda. Ich mache mich gemein mit noch einer Nation, die Dreck am Stecken hat.

Ich weiß nicht, wie ich das Gefühl ablegen soll. Es ist nicht so, dass meine Vorfahren selbst Ausbeuter waren. Sie waren generationenlang Textilarbeiter, auf der einen Seite reisefreudige Kommunisten, auf der anderen zu arm, um jemals im Leben das Land zu verlassen. Sie haben ziemlich sicher keine Sklaven auf fernen Plantagen besessen. Ich habe keinen Kolonialistenopa, der beim Massaker in Amritsar den Schießbefehl gegeben oder Kenianer in Lagern gefoltert hat. Und trotzdem gehört diese Mördergeschichte zu mir, kann ich nicht stolz auf ein Land sein, dessen Geschichte so aussieht. Geschweige denn auf ein Land, in dem 52 Prozent so sehr gegen Immigration sind, dass sie freiwillig die eigene Wirtschaft torpedieren.

Nun muss ich mir wohl die zweite historische Bürde aufladen, wenn ich für mich und meine Tochter Stabilität wünsche. Nur die deutsche Staatsbürgerschaft schützt mich als baldige Nicht-EU-Bürgerin vor der Pflicht, regelmäßig der Ausländerbehörde Bericht zu erstatten. Ich werde wohl den Deutschtumstest machen müssen, vor dem ich mich so gescheut habe, ich werde mich zur Freiheitlich-Demokratischen Grundordnung bekennen müssen – wie kein Biodeutscher – und ich werde mich für die deutsche Vergangenheit schämen müssen. Und es wird kein Fremdschämen mehr sein.

Katy Derbyshire ist literarische Übersetzerin und lebt in Berlin. Unter anderem übersetzte sie Bücher von Christa Wolf und Inka Parei. Ihre englischsprachige Version von Clemens Meyers „Im Stein“ erscheint am 3. Oktober in Großbritannien.

Katy Derbyshire

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