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London calling. Martin Roth, seit 2011 Chef des V & A.
© Museum

Ein Gespräch mit Martin Roth, dem Direktor des Victoria & Albert Museum: Brexit ist überall

Nach einer langen Nacht: Wie ein deutscher Kulturmanager in London das Ergebnis der Briten-Wahl einschätzt

Guten Morgen, Herr Roth. Wie haben Sie letzte Nacht geschlafen?

Fast gar nicht. Ich saß vor dem Computer und habe die Entwicklung verfolgt.

Erleben Sie die Brexit-Entscheidung als Deutscher oder Brite?

Ich bin überzeugter Europäer. Ich bin 1955 geboren, und als Deutscher meines Alters hat man sich damals als junger Mensch eine andere Identität gesucht – eine europäische. So wie ich haben viele gedacht, nicht nur in Deutschland. Das wird jetzt brachial kaputt geschlagen. Das ist meine Empfindung am Morgen nach der Wahlnacht. Wolfgang Tillmans hat hier eine Kampagne gemacht, in der er sagte: Europa lebt in Frieden, nach so vielen Jahrhunderten Krieg, und jetzt wird das alles infrage gestellt.

Sie sind wirklich sehr pessimistisch.

Man muss sich doch fragen – wo sind unsere aufklärerischen, christlichen Werte? Wo ist die Nächstenliebe, die Solidarität? Diese Aggressivität wie jetzt im britischen Wahlkampf erleben wir in Bayern, in Sachsen, bei der AfD, bei den Rechtspopulisten und Europa-Gegnern in den Niederlanden und in Frankreich. Bildung zählt nicht mehr. Was soll das? Ich komme aus ganz einfachen Verhältnissen. Warum hat man Menschen wie mich ausgebildet, wenn man jetzt gegen Experten und Eliten vorgeht? Offenbar haben viele ältere Menschen in Großbritannien für den Brexit gestimmt. Wollen sie den Jüngeren die Zukunft verbauen? Ist das die Bedeutung von Populismus?

Es ist also auch für Menschen wie Sie ein biografischer Einschnitt?

Ich habe in den 80er Jahren in Frankreich gelebt, hatte dort viele jüdische Mentoren, man bewegte sich auf einem sehr hohen intellektuellen Niveau. Wo sind diese Stimmen? Was ist daraus geworden? Wo ist die moralische Kompetenz heute? Leute wie Farage und Stoiber beklagen sich, wie schlimm hier alles sei – und Menschen sterben im Mittelmeer. Wohin sind wir gekommen!

Was bedeutet das Brexit-Votum für Ihre Mitarbeiter und Ihr Haus?

Wir müssen Projekte und Investitionspläne auf Eis legen. Ich muss verantwortlich handeln und abwarten, was für eine neue Regierung kommt. Wir wollen ein neues Museum in Dundee bauen. Aber wer weiß, ob Schottland künftig noch zu Großbritannien gehören wird.

Sie sind gerade zum Präsidenten des Instituts für Auslandsbeziehungen, IfA, gewählt worden, ein Ehrenamt. Wie lange werden Sie beim Victoria & Albert Museum bleiben?

Mein Vertrag hier ist erst einmal nicht begrenzt.

In der jetzigen Situation sind Kulturleute wie Sie und international ausgerichtete Institutionen wie das V & A gefragt.

Ich setze mich mit Leib und Seele ein, aber es gibt auch einmal ein Limit. Meine Strategie in Dresden war, die Stadt mit ihren Kunstsammlungen zurückzubringen auf die europäische Landkarte, Dresden seinen internationalen kulturellen Rang wiederzugeben. Und was ist herausgekommen – Pegida! Da verstehe ich die Welt nicht mehr.

Ist die Kultur stärker entkoppelt, als wir das für möglich halten?

Nein, nicht die Kultur an sich. Was sich vielleicht losgelöst hat, ist dieser Contemporary-Kunst-Wahn, wo es nur noch um Geld und Geschäft geht.

Das Victoria & Albert Museum ist ein Ort der Bewahrung von Weltkultur, aber nicht nur das. Letzten Winter haben Sie einen neuen Europa-Flügel eröffnet, mit Kunst und Design von 1600 bis 1815. Im Herbst kommt eine Schau über die revolutionären 60er Jahre.

Prince Albert hatte bei der Museumsgründung in den 1850er Jahren die Idee der Bildung für alle. Er hat in South Kensington eine ganzes Areal mit Universitäten und Museen geschaffen, in einer Zeit, die vor radikalen Umbrüchen stand. Es war der Versuch, mit Bildung und Kultur ein ganzes Land zu stabilisieren. In dieser Tradition arbeiten wir weiter. Aber was hilft es, muss ich heute fragen. Entschuldigen Sie, dass das alles so finster klingt. Wir reden jetzt am Morgen danach, vielleicht sieht es nächste Woche schon ein klein wenig anders aus, wer weiß.

Schaut man nach Russland, nach Osteuropa, in die Türkei, in die USA, wird es nicht besser. Diktatorische Figuren und Strukturen, Populisten überall.

Der Brexit ist ja nur ein Teil eines Komplexes, der sich weltweit aufbaut. Da steckt mehr Bewegung dahinter, mehr Parallelität, als man denkt. Diese kriegerische Rhetorik der Fremdenfeindlichkeit in einem Land wie Großbritannien, das eigentlich als relativ tolerant gilt, ist absolut beunruhigend. Dass dieses Land sich in so etwas hineintreiben lässt.

Kann jetzt auch ein heilsamer Schock eintreten, wenn die Brexit-Wähler aufwachen und die Folgen sehen?

Das kennen wir doch aus der Geschichte! Ich versuche an diesem schwierigen Morgen über England zu reden, aber zugleich über größere Zusammenhänge nachzudenken. Denken Sie an die 1920er, 1930er Jahre nicht zuletzt in unserem eigenen Land. Da wurden bestimmte Dinge entschieden, und die Menschen sagten: Was da jetzt passiert, ist nicht gut, aber so schlimm wird es schon nicht kommen. Wir wissen, wie das ausging. Aber mein Gott, das sind riskante Vergleiche. Da muss man vorsichtig sein.

Es ist legitim, historische Erfahrungen heranzuziehen.

Wie oft haben sich radikale Ideen durchgesetzt, und das waren nicht die besten Ideen. Wir nehmen Demokratie, Toleranz, zivile Gesellschaft als gegeben hin und spüren plötzlich, wie schnell das alles kippen kann. Das ist die Erfahrung am Freitagmorgen nach der Abstimmung über den Brexit: Wer gegen etwas kämpft, ist immer stärker als diejenigen, die etwas erhalten wollen.

Das Gespräch führte Rüdiger Schaper.

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