Ulrike Ottinger erhält Berlinale Kamera: „Ich hatte einen Himalaya von Möglichkeiten“
Für Ottinger war bereits mit 16 klar, das sie Künstlerin werden wollte. Nun erhält sie die Berlinale Kamera. Ein Gespräch über Privilegien, Protest und Pop-Art.
Die Filmemacherin Ulrike Ottinger, 77, wird mit der Berlinale Kamera geehrt. Zur Preisverleihung im Haus der Berliner Festspiele (Samstag, 16.15 Uhr) läuft ihr Dokumentarfilm „Paris Calligrammes“, in dem sie die Pariser Orte ihrer Anfänge in den Sechzigern wieder aufsucht, die Künstler- und Emigrantenszene jener Jahre.
Frau Ottinger, 1962 fuhren Sie mit 20 mit einer bunt bemalten Isetta von Konstanz nach Paris, hatten eine Panne und trampten weiter. Was wurde aus der Isetta?
Das weiß ich nicht. Es war auf dem Land, ich musste sie zurücklassen. Das Schild habe ich noch abmontiert. Es war unpraktisch mit meinen Sachen, man packt ja nicht ordentlich, wenn man mit dem Auto losfährt.
Die Herren, die mich dann in ihrer schwarzen Limousine mitgenommen haben, haben sich amüsiert. Heute denke ich, es waren Sicherheitsbeamte von de Gaulle, der in der Nähe ein Haus hatte.
Sie wussten, Sie wollen Künstlerin werden.
Das stand schon fest, als ich 16 war. Mein Vater malte nach dem Krieg die großen Kinos aus, in Süddeutschland und der Nordschweiz, auch die Bars der Franzosen. Große Wandbilder im Stil der Fifties.
Er sagte, ich zahle dir jede Ausbildung, aber wenn du Künstlerin werden willst, musst du wissen, dass es hart ist. Also bekam ich kein Geld. Meine Mutter sah das anders, es war das einzige ernsthafte Zerwürfnis zwischen meinen Eltern.
Als Filmemacherin sind Sie um die Welt gereist, waren in China, der Arktis. Wie ist es, in die eigene Vergangenheit zu reisen?
Schwieriger. „Paris Calligrammes“ war der schwierigste Film meines Lebens. Es fängt damit an, dass ich eher diskret bin. Das Autobiografische steckt in all meinen Arbeiten, aber die private Ebene der Dönekens hat mich nie interessiert.
Noch schwieriger war es, mich daran zu erinnern, wie ich mich damals fühlte. Einerseits war ich allein, hatte diese jugendliche Melancholie. Man nimmt alles sehr ernst. Zum anderen verkehrte ich in zwei Milieus.
Ich kannte die älteren Marxisten, die wussten, was Stalinismus ist, während meine jungen französischen Freunde noch den revolutionären Furor hatten. Mit ihnen teilte ich den Zorn über die Ungerechtigkeit der Welt, aber ich war früh gefeit gegen extrem radikale Positionen, hatte immer ein Korrektiv.
Ihr Film ist nach der Librairie Calligrammes benannt, der Buchhandlung von Fritz Picard, in der sich jüdische Emigranten, die Intellektuellen- und Künstlerszene trafen. Ein utopischer Ort, sagen Sie.
Ich habe dort viele, viele Meinungen über brennende politische und künstlerische Probleme gehört, es war eine hohe Gesprächs- und Diskussionskultur. Ständig gingen mir Lichter auf.
Ich war richtig aufgeregt, weil ich mitsprechen konnte. Claire Goll, Walter Mehring, Picard und seine Frau, Ruth Fabian, alle, die aus der Weimarer Zeit überlebt hatten, waren dort. Und sie erzogen mich, wie wunderbare Großeltern. Auch Tristan Tzara, die Dadaisten, Ethnologen und Professoren aus der Sorbonne haben dort gelesen.
Sie stehen alle in dem Gästebuch, das Sie schon in Ihrer Paris-Ausstellung im Haus der Kulturen der Welt gezeigt haben. Wie haben Sie das Buch gefunden?
Es war nach Picards Tod verkauft worden, niemand wusste, wo es ist. Ich rief sämtliche Archive an, vergeblich. Kurz nach Drehbeginn fand ich nachts eine Nachricht vom Marbacher Literaturarchiv vor.
Das Gästebuch würde bei Bassenge in Berlin versteigert. Ich habe dann telefonisch aus Paris mitgeboten und mich vollkommen ruiniert. Ich wollte es unbedingt haben: Paris war meine Schule, mit der Librairie im Zentrum.
Der schwierigste Film: Was wurde noch zur Herausforderung?
Die Logistik. In Weltgegenden zu filmen, wo es keine Wege und Stege mehr gibt, das ist weniger anstrengend, als die eigene Erinnerung zu bauen. Ich habe ja damals nicht gedreht, also musste ich lange recherchieren, habe an die 500 Filme gesehen.
Wie sollte ich sortieren, was weglassen? Allein das Algerien-Kapitel war anfangs drei Stunden lang. Ich hatte einen Berg, nein, einen Himalaya von Möglichkeiten und die tollsten Mosaiksteine.
Schweren Herzens habe ich mich von dem Kapitel über die Pariser Passagen und der Börse vis-à-vis getrennt. Ich hatte Material mit Börsianern, die sich vor dem Gebäude über die Atomtests bei den Nomaden in der Südsahara unterhalten, die die algerische Befreiungsbewegung veranlasst hatte. Es war so schwierig!
Weil Sie immer das Aufregende an den anderen entdecken?
Das ist doch das Interessante: die Ambivalenzen der Menschen, der Politik, der Verhältnisse. In der Zeit wurde so viel verhandelt. Allein die Algerien-Krise wirft ein Licht auf die heutige Terrorismusdebatte, die Kolonial- und die Flüchtlingsdebatte.
Menschen kamen aus diesem schrecklichen Krieg, Franzosen, die seit Generationen in Algerien gelebt hatten, und mussten in Lagern hausen. 1961 hatte es ein Massaker in Paris gegeben, über 200 Tote nach Demonstrationen, unter anderem vor dem schönen Kino Rex. Es war das Thema, als ich ankam. Und dann folgten die Vietnam-Proteste.
Wie sehen Sie die heutige Debatte über das Kolonialerbe, das Humboldt-Forum?
Wir leben in einer Zeit der Slogans, Differenzierung ist nicht gefragt. Rückgabe oder nicht, das ist mir zu oberflächlich. Wer will etwas zurückhaben, warum sind Dinge heute hier in den Museen?
Auch Adelbert von Chamisso, auf dessen Spuren ich in „Chamissos Schatten“ gereist bin, hat Schädel mitgebracht. Aber er hat es thematisiert, war weit von jeder Rassenideologie entfernt. Wir müssen reden, diskutieren und uns der Komplexität der Geschichten stellen.
In „Paris Calligrammes“ besuchen Sie einen afrikanischen Friseursalon in Paris, in dem wahre Kunstwerke von Frisuren gestaltet werden. Warum?
Weil es nicht nur die Kolonialgeschichte gibt, sondern auch die Gegenwart: Die Menschen aus den ehemaligen Kolonien gehören zu Paris. Und ich zeige gern Kontinuitäten: Die Haarkreationen haben Tradition, gleichzeitig sind Rastazöpfe jung und modern.
Warum haben Sie Ihre bildende Kunst bisher nie öffentlich gezeigt?
Das hat teilweise sehr persönliche Gründe. Die Bilder lagerten lange im Keller in meinem Elternhaus. Nach dem Tod meiner Mutter räumte ich nach und nach das Haus auf. Wir haben einige Bilder an die Wände gehängt und wer zu Besuch kam, rätselte, von wem sie stammten.
Sie gefielen mir wieder, es sind großformatige Arbeiten im Stil der Pop-Art. Als ich in Paris damit anfing, waren die Leute schockiert. Die Stadt mit ihrer Bourgeoisie ist ja ein sehr konservativer Ort.
Und wieso haben Sie bald damit aufgehört und wurden Filmemacherin?
Weil ich da meine Interessen noch mehr miteinander vereinen konnte. Ich bin ja auch ständig in die Cinémathèque gerannt. Als ich 1966 in einem anderen Kino „Qui êtes-vous, Polly Maggoo“ von William Klein sah, wusste ich auf der Stelle: Ich muss Filme machen. Mich faszinierte, wie nahe seine Ästhetik an der Pop-Art war. Auch Godard hat das ja gemacht, in „Weekend“ oder „La Chinoise“.
1969 verließen Sie Paris. Weil Ihnen die Studentenproteste zu militant waren?
Weil man mit niemandem mehr sprechen konnte. Alle schrien: Lies erst mal Marx, bevor du das Maul aufmachst! Ich galt als Dienerin der Bourgeoisie. Es brutalisierte sich sehr schnell, vor allem durch die Maoisten. Ich interessierte mich für China, war bei den Vorlesungen von Claude Lévi-Strauss und wusste, dass unter Mao Schreckliches geschieht. Es gibt Rechtsfaschismus, aber es gibt auch Linksfaschismus.
Sie gingen dann nach Berlin?
Das war erst 1973, erst mal ging ich nach Konstanz zurück. Die Vorwürfe und ideologischen Verhärtungen haben mich sehr getroffen. Ich musste mich erst mal sortieren und betrieb gut drei Jahre einen Filmclub, eine Buchhandlung, ein Café und eine Galerie mit hochwertigen, aber erschwinglichen Editionen. Wir wollten ja schon in Paris auch diejenigen erreichen, um die es in unseren Arbeiten geht.
Wie blicken Sie heute auf die 20-jährige Tramperin zurück?
Ich habe immer noch die Neugier mit ihr gemeinsam. Und manchmal denke ich: Wenn ich damals gewusst hätte, was ich heute weiß, hätte ich all diesen großartigen Leuten in Paris ganz andere Fragen stellen können.