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Ulrike Ottinger, 73, ist Filmemacherin, Fotografin und Malerin.
© Kai-Uwe Heinrich

Filmemacherin Ulrike Ottinger im Interview: "Gekochten Seehund fand ich delikat"

Sie isst mit Nomaden, zeltet auf Vulkanasche - und spielte schon als Kind Expedition. Ulrike Ottinger übers Reisen, Jagen und das Gewicht des mongolischen Himmels.

Ulrike Ottinger, 73, ist Filmemacherin, Fotografin und Malerin und lebt seit 1973 in Kreuzberg. Sie war Gast der Documenta 10 und 11 und setzte für eine Ausstellung das Haus der Kulturen der Welt unter Wasser. Ihre Dokumentar- und Spielfilme sind oft sehr lang. Für ihr Zwölf-Stunden-Werk „Chamissos Schatten“ drehte sie mehrere Monate in abgelegenen Polargebieten um die Beringsee. Zwei der vier Teile laufen an diesem Sonntag als Matinee unter anderem in den Kinos Delphi, fsk und International.

Frau Ottinger, Ihre jüngste Reise führte Sie in die Küstengebiete und Inseln der Beringsee, eine unwirtliche Gegend um das östliche Sibirien und Alaska. Sie sind lange unterwegs gewesen …

Genau drei Monate und zehn Tage.

… und nun sitzen Sie uns gegenüber, wie man Sie kennt: eine Dame im maßgeschneiderten Hosenanzug mit Weste. So gehen Sie doch nicht in die Wildnis?

Nein, nein. Da kleide ich mich altmodisch, Khakihose und Wollhemd, wie es die Bergsteiger der 20er Jahre trugen, dazu – ganz wichtig – warme Unterwäsche, und Lederstiefel mit griffigem Profil, das ist das A und O. Diesmal wusste ich, wir würden häufig auf Schiffen sein oder kleinen, offenen Booten. Wenn man mit denen anlandet, muss man mit Kamera und Gepäck wahnsinnig schnell von Bord, damit einen die nächste Woge nicht erwischt, es ist glitschig, es wackelt – und dann passiert es doch, wusch, schon bist du nass. Also habe ich mich das erste Mal richtig ausgestattet.

Ein Hoch auf die Mikrofaser, die Outdoor-Profis!

Diese Geschäfte sind eine echte Herausforderung, das kann ich Ihnen sagen. Da kam ein Verkäufer und fragte: Thema Gummistiefel, wozu brauchen Sie die? Zum Waten? Zum Fischen? Zum Gehen ? Ich guckte völlig perplex und sagte: Ich kann doch nicht fünf Paar Gummistiefel mit mir herumschleppen! Ja, Sie müssen schon sagen, was genau Sie wollen. Nein, Sie müssen mich beraten. Ich muss mit denselben Stiefeln lange Strecken gehen, mich auf Booten bewegen, kurzum: Ich kaufte eine Regenhose und eine Regenjacke wie fürs Fahrrad und einen guten Schlafsack. Ich war total überfordert und entnervt.

Sie haben mehrfach die Mongolei bereist, den Balkan, die Taiga, Amerika, Japan, China. Haben Sie dabei die eine, große Erkenntnis gewonnen?

So denke ich eigentlich nicht, ich kann nur erklären, was mich antreibt. Ich bereite mich akribisch vor, lese viel, studiere Landkarten, dabei entwickeln sich Fantasien. Und dann stehe ich später vor einer Rentierherde oder einer Graslandschaft und vergleiche meine Fantasien mit dem, was ich vorfinde. Das ist immer wieder eine ganz, ganz aufregende Erfahrung. Beglückend sind die Menschen. Dieses Mal haben mich auch die Vulkangebiete Kamtschatkas überwältigt …

… eine riesige Halbinsel im Osten Russlands, mit 400.000 Bewohnern. Vor wenigen Jahren sind dort vier Vulkane gleichzeitig ausgebrochen.

Ich war starr vor Staunen. Die Aschefelder zogen sich endlos. Ein frischer Lavastrom bedeckte eine riesige Fläche mit barock gedrechselten Teigformen. Ein toter Wald, nur die Baumspitzen ragten heraus. Kein Windhauch, kein Vogel war zu hören. Da erschloss sich mir dieses Wort: Totenstille. Aus dem Grau der Asche stiegen Birken und Lärchen in leuchtenden Herbstfarben. Dazu rotglühende Lavaberge und das kalte Eisblau der Gebirge. Dass es so eine wunderschöne Landschaft geben kann, die auch etwas Hartes, Ernstes hat – unfassbar.

Da werden Sie demütig, fromm?

Demütig und fromm werde ich nie. Dennoch, die Landschaft ist von einer solch bewegenden Erhabenheit und doch auch unheimlich. Wir haben auf einer acht Meter hohen Ascheschicht gezeltet und konnten von Glück sagen, dass es nicht geregnet hat. Obwohl die Nacht eisig kalt war, musste ich aus dem Zelt. Es war Vollmond und die Sterne schienen wie gewaltige Diamanten, nicht so klein, wie wir sie kennen. Mich beschlich das Gefühl, ich würde die Erde in einem Zustand erleben, in dem sie gerade erst wird, in ihrem Schöpfungsprozess.

Sie sind auch urwüchsigen Tieren recht nahe gekommen, Walen, die mit einem Flossenschlag Ihr Boot hätten versenken können.

Oh, ja, diese Wucht konnte man spüren. Tiere können mich wirklich begeistern, alleine diese lustigen Seeotter, da werde ich zum Kind. Aber sie sind auch etwas unglaublich Mächtiges. Die ersten chinesischen Kaiser waren Tierahnen, auch frühe griechische Götter – animistische Vorstellungen, die ich gut verstehen kann.

Ein furchtsamer Typ können Sie nicht sein, Sie treffen in „Chamissos Schatten“ jede Menge Eisbären.

Vor den Bären hatte ich richtig Angst. Wir fuhren auf einem Forschungsschiff mit einigen Wissenschaftlern, darunter auch ein russischer Zoologe, der mit seiner Frau zu den sechs Bewohnern der riesigen Wrangelinsel gehört, einem Eiland im Polarmeer. Dort bringen die Bärenmuttis ihre Kinder zu Welt, und Nikita, so hieß er, warnte uns. Alles, was liegt, Robben, Walrösser, gilt als Beute, wird getötet und gefressen. Ihr seid glücklicherweise zu dritt – ich hatte zwei junge Assistenten dabei – also richtet euch groß auf, das beeindruckt! Nur, nachts lag ich ja im Schlafsack und wusste, jetzt gehöre ich ins klassische Beuteschema der Eisbären.

Wer hat Ihnen diese Sehnsucht nach Reisen eigentlich eingepflanzt?

Schon die Eltern. Mein Vater war Kunststudent in Hamburg und fasziniert von Carl Einstein …

… einem Kunsthistoriker, der sich, wie Pablo Picasso auch, mit der „Kunst der Primitiven“ beschäftigte.

Einstein hat die Theorie der Moderne entwickelt, man nannte es damals „Negerkunst“. Surrealismus und Kubismus waren ja sehr inspiriert von der afrikanischen Kunst. Für meinen Vater war Einsteins Buch eine Art Bibel. Und in Hamburg war der Hafen. Er hat 1927 sehr jung als Malermatrose angeheuert, da musste man Roststellen am Schiff überstreichen.

Aschefeld. In ihrem Film "Chamissos Schatten" zeigt Ottinger auch die Vulkangebiete Kamtschatkas.
Aschefeld. In ihrem Film "Chamissos Schatten" zeigt Ottinger auch die Vulkangebiete Kamtschatkas.
© Ulrike Ottinger 2014

Nicht sehr anspruchsvoll für einen Künstler.

Mein Vater wollte einfach raus in die Welt. Bei seiner Äquatortaufe, die ist bei der ersten Überquerung des Äquators fällig, haben die Seeleute die unerfahrene Landratte so hart rangenommen, dass er eine Woche in der Krankenstation lag. Der Schiffsarzt war Kunstsammler, sie haben sich angefreundet, und der Doktor sorgte dafür, dass mein Vater im Speisesaal ein großes Wandbild malen durfte. Von seinen Reisen hat er gerne erzählt.

Der Maler und Schriftsteller Fritz Mühlenweg soll Sie auch inspiriert haben, er begleitete in den 20er Jahren den schwedischen Entdecker Sven Hedin bei Mongolei-Expeditionen.

Die Mühlenwegs wohnten wie wir am Bodensee und hatten sechs Kinder. Er besaß ein Gespür dafür, wie man Geschichten für Kinder erzählt. Sein Buch „In geheimer Mission durch die Wüste Gobi“ habe ich mit Begeisterung gelesen und bin den Weg mit dem Finger auf der Landkarte nachgereist. Einmal öffnete Mühlenweg eine schöne mongolische Truhe und zeigte mir seine Schätze. Eine Mütze aus der Mongolei durfte ich aufsetzen.

Sie waren kein klassisches Puppenmädchen?

Ich hatte ganz kleine, schwarze Zellophanpüppchen, mit denen habe ich im Wohnzimmer lange Expeditionen unternommen. Stühle wurden nach Inseln benannt, die Püppchen überquerten Ozeane und erklommen den Tisch, der war mein Pamir-Plateau.

Und Ihre erste richtige Reise?

Die führte mit meiner Mutter nach Amsterdam, da war ich neun und machte mein erstes Foto mit einer Retina. Die Züge brauchten ewig, die Zerstörungen des Krieges waren längst nicht beseitigt. Meine Mutter arbeitete für ein Lehrinstitut in der Schweiz, das in den europäischen Kolonien ein Fortbildungsprogramm in den jeweiligen Sprachen der Kolonialmächte anbot. Sie sollte eruieren, ob es sinnvoll sei, in diesen Ländern Dependancen zu eröffnen. Ich erinnere mich an eine wunderbare Fahrt, bei der wir von Genua mit der „Città di Messina“ in See stachen, das war ein Mixed-Passenger-Freighter-Liner ...

… ein Handelsschiff, das auch Passagiere mitnimmt.

Maximal zwölf durften es sein, sonst hätte ein Arzt an Bord sein müssen. Wir sind im Mittelmeer acht Häfen angelaufen. Bei späteren Reisen hatte meine Mutter ihre neue BMW-Isetta dabei, einen runden hellblauen Zweisitzer mit der Tür an der Frontseite. Die wurde von einem Kran im Netz an Land gehievt, wie eine gigantische Melone. Damit sind wir dann an Land herumgekurvt.

"Beglückend sind die Menschen," sagt Ulrike Ottinger über ihre Reisen. Hier eine Bewohnerin Kamtschatkas in traditioneller Kleidung.
"Beglückend sind die Menschen," sagt Ulrike Ottinger über ihre Reisen. Hier eine Bewohnerin Kamtschatkas in traditioneller Kleidung.
© Ulrike Ottinger

Alexander von Humboldt schrieb 1807 zu seiner Reise durch Südamerika: „Überall habe ich auf den ewigen Einfluss hingewiesen, welchen die physische Natur auf die moralische Stimmung der Menschheit und auf ihre Schicksale ausübt.“ Demnach hätte der Bodensee aus Ihnen gemacht, wie Sie sind.

Ich bin schon ein Kind des Bodensees, daher meine innige Beziehung zum Wasser. Nur leben wollte ich da nicht, ich ging früh weg aus Konstanz, nach München und für sieben Jahre nach Paris.

Ein Sehnsuchtsort?

Ja, die ersten Filme, die ich sah, waren in französischer Sprache. Meine Generation war stark geprägt von der Kultur der jeweiligen Besatzungsmacht. Ich ging nach Paris wie viele andere aus dem Süden, Ula Stöckl, die Trotta, der Schlöndorff … Die aus der britischen Besatzungszone fuhren nach England und die aus Ost-Berlin nach Moskau oder Leningrad.

Die politische Nachkriegsordnung hat Sie geprägt wie Humboldts „physische Natur“?

Und die Eltern. Meine Mutter war die Sprache und die Musik, mein Vater war das Bild und die Natur.

Wenn Sie nun wählen müssten zwischen Meer, Fluss, See?

Wurstegal, Hauptsache Wasser!

"Unter Nomaden ekelt mich nichts"

Eine Tlingit-Stele (Ausschnitt): In den von Ulrike Ottinger bereisten Nordländern mischen sich animistische Traditionen mit russisch-orthodoxer Religion und amerikanischen Bräuchen.
Eine Tlingit-Stele (Ausschnitt): In den von Ulrike Ottinger bereisten Nordländern mischen sich animistische Traditionen mit russisch-orthodoxer Religion und amerikanischen Bräuchen.
© Realfiction/Ulrike Ottinger 2014

Ihr jetziger Zwölf-Stunden-Film führt aufs Meer und an Küsten, Sie haben aber früher viel in Gegenden ohne Wasser gedreht.

Selbst in der Mongolei gibt es mäandernde Flüsse, wie den Jenissei, der als Quellfluss Schischgid heißt und alle paar Meter wieder anders, weil die Menschen ihn so lieben, dass sie ihn andauernd mit neuen Namen versehen. Dort empfand ich, gerade in den Höhen, etwas sehr Merkwürdiges: dass der Himmel schwerer ist als das Land, seine dunkle Bläue ist ein schweres Gewicht. – Bitte klopfen Sie mal ans Fenster hinter Ihnen, damit die Tauben vom Balkon fliegen. Die sollen da nicht nisten, ich habe schon Meisen zu Gast.

Weg sind sie! Frau Ottinger, Reisen ist oft auch Mühsal: Stechmücken, Sonnenbrand, Diarrhö ... Wie wappnen Sie sich?

Ich nehme eigentlich nie Medikamente, doch diesmal hatte ich eine große Apotheke dabei. Wir bewegten uns oft in sehr abgeschiedenen Gegenden, Hilfe zu rufen wäre nicht möglich gewesen. Zum Glück wurde nichts davon benötigt, und ich werde auch nicht seekrank. Eine Nacht war der Sturm so schlimm, ich lag in der Koje und bin bei jeder Welle mal mit dem Kopf, mal mit den Füßen angestoßen. Krank war ich nur vor 30 Jahren, da hatte ich sehr hohes Fieber. Die Mongolen heizten die Jurte auf, so dass sie zur Schwitzhütte wurde, haben mich eingepackt und mir heiße Hammelbrühe mit Lilienwurzeln gegeben, eine wilde Zwiebelart. Ich habe eine Nacht lang fantasiert und wachte frisch und munter auf.

Mal gibt es Zunge vom Wal zu essen, mal eingelegtes Farnkraut, mal Seehund. Oder jemand schlürft das Auge eines Rentiers aus. Sie ekelt nichts?

In einer Gesellschaft, die intakt ist, sind auch die Gebote der Reinlichkeit intakt. Unter Nomaden ekelt mich gar nichts. Gut, ich war nicht so begeistert vom triefenden Fettsteiß eines Hammels – der als das Wertvollste und Nahrhafteste gilt. Doch ich habe gelernt, man kann auch einfach ein Stück an die anderen verteilen. Den gekochten Seehund fand ich ausgesprochen delikat.

Trockenfisch - das tägliche Brot der Nordländer. Szene aus Ulrike Ottingers Zwölf-Stunden-Reisefilm "Chamissos Schatten".
Trockenfisch - das tägliche Brot der Nordländer. Szene aus Ulrike Ottingers Zwölf-Stunden-Reisefilm "Chamissos Schatten".
© Realfiction/Ulrike Ottinger 2014

Sie zeigen in endloser Länge das Töten und Zerlegen einer Robbe und eines Rentiers. Beim Ausleeren von dessen Mageninhalt ist uns ein wenig übel geworden.

Was wir uns gar nicht mehr vorstellen können: Wer in diesen abgeschiedenen Gegenden essen will, muss Tiere töten, fischen, jagen, sammeln. Aber die Menschen wissen, wie man es tut, ein kleiner Herzstich oder die Aorta wird schnell abgetrennt, das Tier wird sofort bewusstlos. Es leidet nicht lange. Die Mongolen nennen es den weißen Tod, so schlachtet man auch Opfertiere. Da liegt dann so ein großes Tier und wird in viele Teile geschnitten, ein bisschen wird sofort zubereitet, man muss sich ja stärken, der Rest wird ins Fell gepackt, damit man den Leuten im Dorf etwas abgeben kann und alle etwas zu essen haben. So ist Subsistenzwirtschaft.

Was fasziniert Sie an den Nomaden?

Menschen, die sich bewegen, müssen ständig auf dem Quivive sein. Sie machen mit großer Findigkeit und Fantasie aus dem, was sie umgibt, alles, was sie brauchen. Sehr funktional und aufs Minimale reduziert. Nehmen wir die Jurte, ein geniales Bauwerk. Das Gerüst ist ein Scherengitter, sie klappen es zusammen und packen es aufs Yak, Kamel oder Rentier. Es ist so elastisch, dass die Jurte nicht mal beim schlimmsten Sturm wegfliegt. Oder sie machen bestickte Filzstrümpfe und Stiefel aus der Haut der Rentierfüße, die sind wasserdicht und absolut warm. Man würde annehmen, dass die kargen Lebensbedingungen die Nomaden künstlerisch und ästhetisch beeinträchtigen. Das Gegenteil ist der Fall. Sie dichten wunderbare Epen, ihre Sänger, Tänzer und Maler sind großartig. Ihre rituellen, aber auch ihre Alltagsgegenstände und Kleidung werden in einer Weise verziert, die ich bewundere.

Wenn Sie in die Mongolei oder jetzt nach Tschukotka reisen, nehmen Sie kistenweise Geschenke mit.

Wenn ich irgendwo hinkomme, werde ich zum Tee eingeladen, man begrüßt sich, ich erkläre, wo ich herkomme, was ich will. Dann mache ich ein Geschenk. Für die mongolischen Frauen, die ja alles selber nähen, sind es Stoffe. Von allen Reisen durch China und Indien habe ich Seide und Baumwolle mitgebracht, bestimmt zweitausend Meter. In Tschukotka verschenkte ich zum Beispiel winzige Perlen, kleiner als Apfelkerne, da kaufe ich in Berlin schöne Farbkombinationen. Sie werden auf Fellsachen appliziert. Schweizer Taschenmesser sind auch sehr beliebt, die werden gleich an den Gürtel gehängt. Oder Taschenlampen mit Dynamo, für die keine Batterien notwendig sind.

In der Weite. Ein tschuktschischer Rentierhirte, im Hintergrund seine Herde.
In der Weite. Ein tschuktschischer Rentierhirte, im Hintergrund seine Herde.
© Ulrike Ottinger

In „Chamissos Schatten“ erzählen Menschen lange in unterschiedlichen Sprachen …

Russisch, Evenisch, Tschuktschisch. Koriakisch. Die Eskimosprachen der Yupik werden auf beiden Kontinenten gesprochen.

… und Sie verstehen beim Filmen nichts davon. Das muss Sie doch dauernd irritieren.

Das können Sie so nicht sagen. Die große Anthropologin Margaret Mead meinte, wenn man eine Sprache noch nicht spricht, läuft alles über intensive Beobachtung von Gesten und Mimik – man schaut genauer darauf, wie etwas gesagt wird. Man wusste, dass die Geschichte eines Ortes oder ein Märchen zum Rentierhirten erzählt wurde. Die Verkehrssprache war Russisch oder in Alaska Englisch.

Wie viel haben Sie eigentlich insgesamt gefilmt?

Es sind etwa 130 Stunden Material, rund 30 Stunden Gespräche mit Menschen. Das alles musste transkribiert, übersetzt und provisorisch untertitelt werden, nur um es schneiden zu können. Nach der Reise war ich körperlich in Hochform, dann saß ich eineinhalb Jahre im Schneideraum, für zwölf Stunden Film, der in vier Teile gegliedert ist. Die Jagd nach dem Wal dauerte in Echtzeit sechs bis sieben Stunden, im Film sind es dann 15 Minuten geworden. Der Wal tauchte hier oder dort auf, und unser Boot war Teil der Treibjagd. Das Stativ war auf dem Boden des Bootes vertäut, ich musste dauernd über die Seile steigen.

Die Jagd endet auch noch erfolglos.

Der Wal ging verloren, das Seil löste sich von der Schwanzflosse und er sank auf den Meeresgrund. Es war für uns alle ein erschütternder Moment. Ein Wal war getötet worden und die Meeresjäger mussten ohne Beute zurückfahren.

Genial konstruiert. Die Jurte der Nomaden ist so elastisch, dass sie nicht mal beim schlimmsten Sturm wegfliegt.
Genial konstruiert. Die Jurte der Nomaden ist so elastisch, dass sie nicht mal beim schlimmsten Sturm wegfliegt.
© Ulrike Ottinger

Wir sitzen hier in Ihrer geräumigen Altbauwohnung, es sieht aus wie bei einer Privatgelehrten. Bücher über Bücher, Fotoschachteln, Diakästen, und überall mitgebrachter Krimskrams, Masken, Figuren, ein grüner Affe als Schnupftabakdose, steinbesetzte Mützen aus Ladakh, Ritualwaffen, ein Becher für Matetee.

Die Schnupftabakdose aus Jade ist ein mongolisches Geschenk, ein zur rituellen Begrüßung unerlässliches Objekt. Das hier ist ein Talisman, eine Knochenschnitzerei aus Nordindien. Neben der Tür hängen zwei Walrosshauer mit filigranen Schnitzereien von 1779, Schiffe und Landkarten sind darauf eingraviert. Dieses Mal habe ich nur etwas ganz Kleines mitgebracht, einen Walfisch aus dem Backenzahn eines Walrosses.

Welchen der vielen Entdecker, Abenteurer und Forscher hätten Sie denn gerne begleitet?

Bei Adelbert von Chamisso gefällt mir seine mitfühlende Art, er verstand die Menschen gut. Bei Steller …

Georg Wilhelm Steller hat als Arzt Mitte des 18. Jahrhunderts den dänischen Kapitän Bering auf seinen Erkundungen begleitet.

… mag ich die Sprache und wie er als Naturwissenschaftler gearbeitet hat. Er sezierte Tiere unter unvorstellbaren Mühen und beschrieb sie für alle, die sie nicht sehen konnten, mit uns vertrauten Vergleichen. Eine Seekuh zum Beispiel: „Der Kopf vom Skelett ist in seiner Form von einem Pferdekopf nicht zu unterscheiden. Die Augen dieses großen Tieres sind nicht größer als Schafsaugen ohne Augenlider.“ Sehr treffend. Und er hatte große medizinische und geografische Kenntnisse.

Souvenir. Von ihrer letzten Reise brachte Ottinger einen aus dem Backenzahn eines Walrosses geschnitzten Walfisch mit.
Souvenir. Von ihrer letzten Reise brachte Ottinger einen aus dem Backenzahn eines Walrosses geschnitzten Walfisch mit.
© Kai-Uwe Heinrich

Machen Sie eigentlich auch mal einfach nur Urlaub – Rügen, Provence, Toskana?

Nach der langen Zeit im Schneideraum bin ich tatsächlich nach Mallorca gefahren, war wandern im Norden. Aber das ist die Ausnahme. Ich werde mit meinen Filmen viel auf Festivals eingeladen, am liebsten an Orte, die ich noch nicht kenne, Rio, Buenos Aires, Mar del Plata, Vancouver, Mexiko City, Schanghai, Seoul, Kalkutta, Bombay, Delhi, Ladakh, Reykjavik, Oslo, Vilnius, Moskau, Ankara, Dubai. Das Schöne ist, ich lerne dort Menschen kennen, die reichen mich weiter, geben Empfehlungen.

Beruflich sind Sie Nomadin, privat sind Sie ungemein sesshaft. Seit 1979 haben Sie die gleiche Kreuzberger Adresse.

Ich brauche doch einen Ort, von dem aus ich alle meine Unternehmungen plane, ein Basislager. Hier ist mein Archiv, sind meine Bücher, meine Mitbringsel, meine Fotos, hier in all diesen Schachteln. Dinge, mit denen ich immer wieder arbeite.

Wie kamen Sie eigentlich nach Berlin?

Das war 1973, der Künstler Wolf Vostell lud mich ein, sein Happening „Berlinfieber“ zu dokumentieren. Die Stadt hat mich sofort fasziniert. Die Zeiten einer ganzheitlichen Stadtplanung sind leider vorbei, nehmen Sie nur den verhauenen Potsdamer Platz! Damals war wenigstens die Geschichte überall gegenwärtig, Ruinen standen herum, es gab noch Brandspuren und Einschusslöcher in den Hauswänden, darauf die alten Reklameschriften. Ich hatte mir eine 16-Millimeter-Kamera besorgt, es war fürchterlich aufregend, denn ich musste ständig diese 30-Meter-Filmrollen wechseln, während das Happening weiterging. Das Gelände war voller Bombentrichter, und ich fiel mit der Kamera in einen rein. So fing es an.

Christiane Peitz, Norbert Thomma

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