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Kamasi Washington, 37, glaubt an die spirituelle Kraft des Jazz. Mit seinem Tripple-Album "The Epic" eroberte er die Pop-Charts.
© imago / Starmedia

Interview mit Kamasi Washington: "Ich bin eine gespaltene Persönlichkeit"

Der Saxofonist Kamasi Washington gilt als das politische Gewissen des Jazz. Ein Gespräch über Amerikas Ängste, eine Jugend in Los Angeles und das neue Album "Heaven & Earth".

Mister Washington, Sie haben Ihr musikalisches Konzept „Harmony of Difference“ genannt. Gibt das Ihre Erfahrungen wieder oder formulieren sie einen Wunschtraum?

Beides. Die EP, die den Titel "Harmony of Difference" trägt, war eine Auftragsarbeit für das Whitney Museum in New York. Sie wollten keine bestimmte Musik von mir haben. Ich dachte also daran, sämtliche meiner Interessen für Malerei, Musik, Poesie zusammenzuführen und zu etwas zu vereinen, das mich dann ja wohl ausmachen würde. Zur selben Zeit aber nahm in der amerikanischen Gesellschaft dieser Lärm zu, der sich gegen Integration wandte. Es machte sich ein Gefühl breit, nach dem zu viele Leute aus zu vielen Ländern in die USA kämen, sie zugrunde richten würden, dass man die Grenzen abschotten, Mauern bauen und Menschen zurückweisen müsste.

Dieses Gefühl hat Donald Trump schließlich zur Macht verholfen.

Richtig. Aber ich komme aus Los Angeles. Und ich kenne es nicht anders, als dass Menschen von allen möglichen Erdteilen zusammenleben und etwas entstehen lassen, das sie großartig finden. Die meisten sind glücklich darüber, dass es Muslim-Gemeinschaften in ihrer Nähe gibt oder Afrikaner, Asiaten und Deutsche. Niemand will sie davonjagen. Dem steht das Denken von Gegenden in den USA gegenüber, in denen die Leute unter sich leben und Angst vor allem haben, was nicht so ist wie sie selbst. In der politischen Debatte wird entweder gesagt, dass Migration ein großes Problem darstellt, oder es wird das Gegenteil behauptet und ein Geschenk in ihr gesehen. In dieser Situation hoffe ich klarmachen zu können, dass auch Musik ein ziemliches Durcheinander darstellt. Dass sie sich aus Unterschieden zusammensetzt, aus verschiedenen Instrumenten, Harmonien und Traditionen. Obwohl ich Songs geschrieben hatte, die für sich stehen könnten, schob ich sie ineinander, um etwas vielleicht noch Schöneres zu kreieren. Als Metapher.

Ein deutscher Dramatiker hat Ihre Heimatstadt Los Angeles einmal die „erste intergalaktische Metropole“ genannt, einen Ort, der nicht mehr auf ein Zentrum ausgerichtet ist. Wie sehr macht sich diese uferlose Peripherie in Ihrer Musik bemerkbar?

Los Angeles ist wirklich riesig. Es braucht mehrere Stunden, um die Stadt hinter sich zu lassen, und mir leuchtet ein, das Gebilde als Weltraumstation zu begreifen. Die Menschen sind aus der ganzen Welt gekommen. Es gibt so viele unterschiedliche Siedlungen, die miteinander verwachsen sind. Man bewegt sich ständig von Nische zu Nische. Da ist ein exzellentes deutsches Lokal direkt neben einem indischen, und die Straße runter ist ein jüdischer Imbiss gegenüber einem italienischen Restaurant gelegen, Tür an Tür mit einem afrikanischen Tanzstudio.

Das hat auf Ihre Musik abgefärbt?

Als Musiker bewegt man sich ebenfalls in Nischen, denn es gibt in Los Angeles nichts, das groß genug wäre, um das Ganze zu repräsentieren. Kein Stil könnte sich hier durchsetzen. Die Szenen grenzen sich nicht mal voneinander ab. Die Leimert-Park-Szene in South Central, in der ich mich hauptsächlich bewege, nimmt alle möglichen Stile in sich auf. Da wird HipHop gemacht, R’n’B und Gospel und Jazz gespielt. Bis ich elf wurde, hatte ich nichts außer Gangsta-Rap gehört. Von anderen Szenen unterscheiden wir uns nur dadurch, dass sich dort eben andere Leute herumtreiben. Wir machten uns früh auf den Weg, um mit den Musikern anderer Szenen zu spielen. Jeder pendelt auf diese Weise zwischen Clubs und Orten, an denen er Leute zu finden hofft, die seine Sprache verstehen. Aber wie oft bin ich auf eine Empfehlung hin, dass da fantastische Jazzmusiker seien würden, irgendwo aufgekreuzt und kein einziger Jazzmusiker war da. Stattdessen war der Raum gerappelt voll mit Funk-Musikern. Los Angeles ist also nichts anderes als eine wirklich große kleine Stadt. Wir kennen uns alle. Andererseits hat Hollywood nicht das geringste mit Venice zu tun, und Long Beach ist vollkommen anders als Compton…

… oder Inglewood, wo Sie aufgewachsen sind und heute noch wohnen.

Vielleicht kann man es so ausdrücken: Vielfalt ist unsere Tradition. Die musikalischen Helden von Los Angeles waren stets solche, die viele unterschiedliche Stile verstanden haben. Snoop Doggs Liveband, in der ich eine Zeit lang engagiert war, setzte sich nur aus Jazzmusikern zusammen. Er wusste genau, warum er es so haben wollte, obwohl es um Hip-Hop ging.

Hat Ihr Vater Recht behalten, wenn er Ihnen mit 13 Jahren die Gospel-Kirche empfahl, um ein anständiger Musiker zu werden?

Ich spielte Saxophon erst seit wenigen Tagen, als mein Vater mich zur nigerianischen Methodisten-Gemeinde schickte. Dort wird Musik für einen Zweck benutzt, was die Sache von Anfang an sehr real sein ließ. Es ging nicht um Skalen oder Akkorde, sondern um einen Job. Und gerade im Gospel dreht sich alles darum, to give into the Music.

Und das heißt?

Man spielt einen Song und mittendrin wechselt der Sänger plötzlich in einen anderen Song. Diesen Wechsel muss man so selbstverständlich mitmachen, als wäre er von einem selbst ausgegangen. Du weißt nicht mal, in welcher Harmonie es weitergeht, du weiß nichts, aber du machst mit, weil es sich richtig anfühlt. Dieser Flow, der dich das tun lässt, definiert die Gospel-Tradition. Die Musik sagt einem, wohin es geht. Sie nennen es, sich dem Geist zu überantworten. Das war mein Start.

Vor Gott ist alles erlaubt.

Mein Vater brachte mir die wesentlichen technischen Tricks bei. Aber einmal in der Woche wurde ich dieser Situation ausgesetzt, in der ich schnell sein musste, ohne dass ich mein Instrument schon gut genug beherrschte. Jeder in der Kirche war auf derselben Linie. Da ging es nicht darum, möglichst rasant Patterns herunterrattern zu können, sondern die unendlich vielen Möglichkeiten zu entdecken, mit denen man ein Puzzlestück an die richtige Stelle setzen kann.

Haben Sie sich auch an Free Jazz versucht?

Sicher? Der Club in Leimert Park wurde von Billy Higgins betrieben. Es war dort, im World Stage, dass ich mein erstes Jazzkonzert besuchte und Pharao Sanders sah. Danach war ich ständig dort. Free Jazz ist aber nur der Ausdruck für eine Ästhetik der Dissonanz, die meistens mit Ornette Coleman identifiziert wird. Er folgte einer eigenen Sprache, in seinem „harmolodischen System“ geschah nichts zufällig. Wenn man so will ist meine Musik viel freier, denn sie folgt weniger strengen Parametern.

Für „The Epic“ sind Sie wie ein Popstar gefeiert worden. Haben Sie sich danach gefragt, wie es weitergehen könnte?

Mit den Arbeiten des Nachfolgealbums begannen wir schon im Mai 2016. Wir waren unablässig auf Tour. Es bot sich nur ein zweiwöchiges Fenster in dem ganzen Jahr, in dem wir neue Stücke würden einspielen können. Aus den hunderten von Songs, die ich aufgeschrieben habe, wählte ich also dreißig aus, die sich vielleicht ganz gut machen würden, denn mir fehlte die Zeit, zu überlegen, wovon das nächste Album handeln sollte.

„Heaven & Earth“ greift stark auf Gospel-Traditionen zurück. Wie sehr drückt es spirituelle Erfahrungen aus?

Ich bin eine ziemlich gespaltene Persönlichkeit. Einerseits bin ich mir der Umstände bewusst, unter denen ich lebe, ich nehme die sozialen und politischen Probleme um mich herum sehr genau wahr. Ich lese viel und interessiere mich für aktuelle Entwicklungen. Andererseits bin ich das alles auch wirklich überhaupt nicht. Mich kümmert fast nichts. Ich kann stundenlang aus dem Fenster starren und mich in meiner kleinen Welt versenken. Dann geht mich das alles, was außerhalb meines Kopfes vorgeht, nicht das Geringste an. In dieser Dualität kann es passieren, dass ich da draußen hartnäckig eine Idee verfolge, die mich innerlich bald schon gar nicht mehr berührt.

Klingt, als wären Sie manisch depressiv?

Auf Tour fühlt man sich mitunter genauso. Nach „The Epic“ hatten meine Kumpel und ich, die wir gemeinsam aufgewachsen waren, erstmals die Möglichkeit, die ganze Welt zu sehen. Wir waren zuvor allenfalls zu dritt oder viert für eine Tournee engagiert worden, aber diesmal waren acht von uns unterwegs und wir spielten sogar die Musik, die uns viel bedeutete, weil sie sich abhob. Wir waren so intensiv zusammen wie nie zuvor und dabei redeten wir viel über die Unterschiede, die wir in der Welt entdeckten. Die Menschen, vor denen wir spielten, lebten in unterschiedlichen Realitäten. Mein Gefühl ist, dass die Welt die ist, von der wir wollen, dass es sie gibt.

´"Es hat für mich keine Bedeutung, was jemand anderes von Jazz versteht"

"Meine Musik handelt von Ermächtigung." Saxofonist Kamasi Washington beim Melt!-Festival.
"Meine Musik handelt von Ermächtigung." Saxofonist Kamasi Washington beim Melt!-Festival.
© imago/Votos-Roland Owsnitzki

Sie meinen, dass ein Gedanke die Welt neu erschaffen könnte?

Ja.  Ich wuchs in einem Viertel in Los Angeles auf, das als ziemlich gefährlich galt. Und ich erinnere mich, wie sehr wir als Kinder von der Vorstellung besessen waren, als afroamerikanische Jungs aus dieser Gegend nichts anderes als Gangster werden zu können. Ich konnte mir zwar nicht vorstellen, die Verbrechen zu begehen, aber das Bild einer Gangster-Existenz war doch tief in mir verwurzelt. Ich adaptierte die Sprache des Gangsta-Rap, schaffte mit die Gesten drauf und blickte so böse in die Welt, wie Gang-Mitglieder es tun. Bis eines Tages jemand sagte, du bist kein Gangster. Und als der Gedanke zerfiel, änderte sich mein Leben. Einige meiner Freunde haben nie von der Idee abgelassen, sie starben früh, oder sie landeten im Knast. Und den Unterschied machte nur das Bild, das ich von mir selbst gewonnen hatte.

Himmel und Erde sind zwei Bilder.

Bei den Aufnahmen flogen uns die Songs paarweise zu. Immer suchte sich ein Song, der meine irdische Seite und nichts weiter als Lebenserfahrungen von mir ausdrückte, einen Song aus, in dem die Welt war, wie ich sie mir wünschte. So gibt es auf dem „Earth“-Teil ein Stück namens „Fist and Fury“, das von Bruce-Lee-Filmen inspiriert ist und das Leben als einen nicht endenden Kampf voller Schläge und Blessuren beschreibt. Nicht dass ich damit das Leiden heroisieren will, es ist ja kein Leiden mehr, wenn man versteht, dass es dazugehört. Darauf antwortet „Space Travellers Lullaby“, der Song fiel mir ein, als wir eines Nachts mit dem Tourbus an einem Ort hielten, von dem aus man die Milchstraße am Himmel und sämtliche Sterne sehen konnte. Ich flippte aus, das ganze Universum schien sich vor mir auszubreiten. Eines Tages, dachte ich, werden wir all das entdecken. Wenn uns beschieden sein sollte, dass wir uns nicht selbst zerstören, werden wir überall dorthin gelangen. Das Universum ist so groß, weil wir unendlich Potenzial haben. Davon träume ich. Natürlich habe ich nie über die Beziehung zwischen Bruce Lee und Weltraumreisen nachgedacht. Aber als wir die beiden Songs einspielten, erkannte ich, dass mein Glaube an das unerschöpfliche Potenzial des Menschen auch ein Weg ist, sein Leiden zu mindern. Denn für irgendwas muss all das, was ihm möglich ist, letztlich gut sein.

Ihre Musik handelt von Macht?

Von Ermächtigung, richtig. So lange jeder einzelne nicht selbst dafür sorgt, dass die Welt zu dem friedlichen Ort wird, den er sich wünscht, und das wünscht sich eigentlich jeder, solange er die Aufgabe an Menschen delegiert, die es für ihn erledigen sollen, bleibt die Erde ein finsterer, kalter Planet im Universum. Musikmachen ist als würden Sie eine Packung Kaugummi suchen in einem riesigen Kaufhaus, in dem es kein Licht gibt. Anfangs poltert man gegen Regale, reißt wahllos Dinge heraus, aber dann entwickelt man einen Sinn dafür, wo sich das Erwünschte befindet. Man weiß, wo die großen Diamanten sind, zehn Schritte in diese Richtung, da sind sie. Aber um ein Geschmeide zu machen, braucht es noch der kleinen Steine, der roten und grünen. Nur wenige Menschen wissen, wo sich die wirklich seltenen Kostbarkeiten befinden, die man nur auf eine Weise benutzen sollte. Niemand kann einem beibringen, wie man sie aufspürt.

Sie haben einen Jazzmusiker als Vater, und in Ihrer Band sind noch weitere Söhne von Jazzmusikern, die nie sehr berühmt wurden. Haben Sie daraus für sich selbst den Schluss gezogen, keine Kompromisse zu machen?

Ich fühlte mich nie vor die Wahl gestellt. In mir gibt es keine starke Regung für oder wider eine bestimmte Musik. Meine Freundin findet mich diesbezüglich manchmal schockierend anspruchslos. Da ich nichts gegen Musik habe, welcher Art auch immer, mache ich einfach die, die mir entspricht. Ich glaube nicht, dass Charlie Parker eine Wahl hatte, zwischen Bebop und einem anderen Stil. Deshalb hat für mich auch keine Bedeutung, was jemand anderes unter Jazz versteht. Es ist bloß ein Wort. Und die Musik wurde nicht für das Wort erfunden. Es war sogar umgekehrt, dass das Wort die Musik ursprünglich herabwürdigen sollte.

Für Branford Marsalis sind Sie „kein Jazzmusiker“. Denn sie und ihre Mitmusiker „nicken beim Spielen mit den Köpfen, genau was sie machen, wenn sie Hip-Hop spielen“.

Was mich betrifft, geht das in Ordnung. Er redet nur über ein Wort. Es ist wie Shakespeare sagt: A rose is a rose by any other name. Wenn Branford Marsalis glaubt, ich sei ein Hip-Hop-Musiker, frage ich mich nur, welches Bild er von Hip-Hop hat.

Heute ist Kamasi Washingtons Doppelalbum "Heaven & Earth" bei Young Turks erschienen.

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