Kamasi Washington live in Berlin: Gewitter und Gewölk
Saxofonist Kamasi Washington veröffentlichte mit "The Epic" das Jazz-Album des Jahres. Sein Auftritt im Berliner Yaam blieb allerdings hinter den Erwartungen zurück.
Bei nur einer Chance, die man für sich selbst im Leben sieht, übertreibt man es schon mal. Das geht meistens nicht gut aus. Kamasi Washington hat aus Übertreibung ein phänomenales Jazz-Ereignis erschaffen. Es heißt "The Epic", hat eine Spieldauer von drei Stunden und erreichte in Deutschland vor kurzem Goldstatus. Und das bei dem Debüt eines 34-jährigen Musikers, der zuvor namentlich kaum in Erscheinung getreten war, sondern sich bei Chaka Khan, Lauryn Hill und Snoop Dogg im Hintergrund verdingte. Was man eben so macht als hochtalentierter Multi-Instrumentalist, der mit Jazz allein nicht über die Runden käme.
Die Wende kam, als ihn Acid-Pop-Produzent Flying Lotus ins Studio holte. Auf zwei seiner Alben sind Kamasi Washingtons Improvisationen zu hören. Schließlich schrieb er für Kendrik Lamars "To pimp a Butterfly" die Arrangements. Der Zeitpunkt war gekommen, die eigene musikalische Vision mit jener Handvoll verschworener Begleiter umzusetzen, die seit Kindertagen um ihn sind. Und Flying Lotus' Label Brainfeeder wurde der Ort dafür. Die Freunde schmissen Geld zusammen, heuerten ein 32-köpfiges Orchester und noch einmal einen Chor mit 20 Sängern an. Sie griffen auf die Idee des Doppeltrios zurück, mit zwei Schlagzeugern, zwei Bassisten. Das Ergebnis: ein Rausch. Schwebende Melodien, weit gespannte Bögen, ein wirbelndes Neo-Bop-Kontinuum, radikal in seinem hochfahrenden Anspruch, die Sprache John Coltranes mit "Star-Track"-Chören zu verbinden. Die Platte wollte überwältigen.
"The Epic" ist das am meisten besprochene Jazz-Album des Jahres, gefeiert als "Meilenstein", "Meisterwerk", "mitreißender Wahnsinn". Und dass einige meinen, es handele sich dabei gar nicht um Jazz, macht die Platte nur noch besser. Wie groß doch die Sehnsucht nach einer Musik ist, die auf spirituelle Kraftquellen zurückgreift und die formatierten Pfade des Pop überschreitet, ohne gänzlich unverständlich zu werden.
Auftritt mit afrikanischem Kaftan und bunter Häkelmütze
Die Erwartungen könnten also höher nicht sein am Sonntagabend beim Auftritt Washingtons im Yaam, bei dem der ergraute Jazz-Kenner mit randloser Brille und Zopf neben den Wollmützen- und Parka-Ladies aus Mitte steht. Wie würde Washington seinen konzeptionellen Ansatz mit einer abgespeckten Version des Riesenprojekts aufrecht erhalten? Wie würde die Musik klingen, wenn die Hälfte fehlte?
Leider hat die achtköpfige Band, die sich als Kollektiv versteht, die schlechteste aller denkbaren Antworten gegeben. Den Mangel versuchte sie durch Schlagkraft zu kompensieren. Nach einem viel versprechenden Auftakt mit "Askim", dem melancholisch brodelnden Horace-Silver-Gedächtnis-Song, ging der melodische Kern der Musik mehr und mehr in deftigen Trommelgewittern verloren. Am Ende setzten die Bläser kaum mehr als Akkordtupfer in den Raum, während Drummer Ronald Bruner an die Zeit erinnerte, da er als Teenager bei den Thrashpunks von Suicidal Tendencies spielte. Es war dann die Art aufgemotzter Funk-Jazz, der Party machen will und die Brücke zu Prince und Defunkt schlägt.
Kamasis Vater Rickey kommt auf die Bühne und spielt mit
Er bekomme jetzt oft zu hören, erzählt Kamasi Washington in einem Interview, dass Leute Jazz gehasst hätten, bevor sie seine Musik entdeckten. Er antworte darauf: "Es ist nicht der Jazz, den du hasst, sondern die Idee von ihm."
Gekleidet in einen afrikanischen Kaftan, mit bunter Häkelmütze, entwickelt Washington seine Soli ohne Hast. Jeder hat Zeit, sich hier in Alleingängen zu verlieren, über Beatwechsel hinweg, vorangetrieben von dramatischen Spannungsbögen, stets steuert das Kollektiv mit. Aber Washington ist eben nicht umgeben von begnadeten Instrumentalisten, die ihm etwas entgegensetzen, die ihn fordern könnten. Bei "Henrietta Our Hero" kommt sein Vater Rickey Washington hinzu, ein bescheidener Flötist und Saxofonist, der seinem Sohn eine Jugend in Inglewood bescherte, zwischen Gangs, aber durch Stipendien gefördert, so dass er unbeschadet zur Universität ging. Henrietta ist Kamasis Großmutter, eine weise alte Dame, an die man sich mit Rat wenden konnte. Was als Zwiegespräch ihrer Nachgeborenen hätte toll sein können, ist dann doch nur ein Soul-Jazz-Gewölk.
Bei ihrem Auftritt kommt die Band aus der Zitatfalle nicht heraus
Gegen Party ist nichts zu sagen. Doch die brachiale, streckenweise stumpfe Funk-Motorik von Doppelschlagzeug und Keyboard ermüdet auf eine Weise, die Washington nicht gemeint haben kann mit seinem Postulat musikalischer Überforderung. "Die Menschen verzehren sich nach geistigem Futter", erzählte er "Pitchfork", "aber die beste Art, sie zum Schweigen und dazu zu bringen, die Augen zu schließen, ist, ihnen klar zu machen, dass sie nicht schlau genug sind, um zu verstehen." Die Kunst ist, sich selbst an diesen Punkt der Überwältigung zu bringen und das eigene Hirn von so viel Information fluten zu lassen, das es klein beigeben muss. Das ist mit "The Epic", der Großerzählung, gemeint, die das Echo einer unbegreiflichen Macht darstellt. Die Band verließ das Studio mit 190 Songs. Sie geriet an den Rand der Erschöpfung, aus der Materialflut 17 Stücke für drei CDs auszuwählen.
Auf der Yaam-Bühne bleibt ein halbes Dutzend Songs davon übrig. Die Gruppe, die sich in dieser Formation The Next Step Band nennt, klingt wuchtig und hemmungslos, der Sound ist roh und offenporig. Dass sie nicht herausfindet aus den Zitatfallen, mit denen sich die Musiker untereinander Einfälle zuspielen, ist verzeihlich. Kamasi Washington, der große, breite Mann, steht im Zentrum, lächelt versonnen. Sein Publikum sei klug, sagt er. Besser zu viel von allem, als dass es nur wieder Jazz ist.
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