Saxofonist Kamasi Washington: Das politische Gewissen des Jazz
„Mich kümmert fast nichts“, sagt Kamasi Washington. Der einflussreiche Jazz-Saxofonist kommt mit seinem neuen Album nach Berlin.
Er spielte sein Instrument erst ein paar Tage, da sagte sein Vater, wenn er Musiker werden wolle, solle er in die Kirche gehen. Kamasi Washington hatte das Saxophon des Vaters entdeckt, das der aus unerfindlichen Gründen nicht mehr anrührte. „Die Kirche“, sagte der Mann nun, „ist der beste Ort, um zu lernen.“ Also verbrachte der Junge von da an jeden Sonntag in einer nigerianischen Methodisten-Gemeinde, spielte mit der Gospelband, obwohl er technisch noch ganz am Anfang stand. „Es ging nicht um Skalen und Akkorde, sondern um einen Job, was die Sache von Anfang an sehr real sein ließ. Gerade im Gospel dreht sich alles darum, to give into the Music.“
Das war der Anfang einer Karriere, wie sie für einen Jazzmusiker eher selten ist. Kamasi Washington, ein 37-jähriger, scheuer Tenorsaxofonist aus Los Angeles, überragt mit seinem Haarschopf, dem imposanten Körperumfang und meistens gekleidet in weite afrikanische Gewänder nicht nur physisch die meisten seiner Mitmenschen. Sein ausuferndes Debütalbum „The Epic“ bahnte ihm 2015 auf Anhieb den Weg in den Pop-Mainstream, er gilt als politisches Gewissen des Jazz. Seine ausladenden Stücke schienen die Sehnsucht nach einer Ära zu wecken, in der „Musik ein Schwert für die Bürgerrechte war“, wie Washington selbst es ausdrückte. Sie formulierten einen Optimismus der Black- Lives-Matter-Bewegung, der sich zeitgleich auch in Kendrick Lamars Refrainzeile wiederfand: „We gon’ be alright.“
Dass der Ausgangspunkt für diesen Aufstieg zur einflussreichsten Stimme des amerikanischen Jazz eine Gospel-Kirche war, übte dabei einen gewissen Reiz aus. Machte ihn aber auch irgendwie suspekt, da Jazz sich nicht mit Absichten gemein machen sollte, nicht mal mit denen Gottes. Das ist jedenfalls die europäische Linie.
Einflüsse der Westküste und Afrikas
Abgesehen davon, dass zur Entwicklung von Kamasi Washington zu dem gefeierten Bandleader, der er heute ist, noch sehr viel mehr gehörte, als die emphatische Sonntagsschule, hat die Überantwortung an eine höhere Inspiration für ihn große Bedeutung. Mit seinem dritten Album „Heaven & Earth“, das in vier Wochen bei Young Turks erscheinen wird, wendet er sich seiner evangelikalen Frühphase noch ausdrücklicher zu als bei seinem Debüt. Abermals ergänzt er sein Tentett um Streicher und Chöre, die den Hardbop-Kern seiner Musik ins Sphärische, inbrünstig Glückselige treiben. Wer schon vorher den Eindruck hatte, dass dieser Mann von allem zu viel will, dürfte erneut von der Opulenz irritiert sein, mit der er psychedelische Sphären anvisiert, ohne dass es so recht einen Begriff dafür gebe.
Cinemascope-Jazz wäre eine Variante für dieses Breitbild eines Sounds, das sich aus Beats, Gefühlen und Einflüssen der Westküste, Afrikas und Washingtons enzyklopädischer Plattensammlung zusammensetzt, Space-Jazz eine andere bei all den melodischen Höhenflügen, zu denen die 60-köpfige Formation abhebt.
Tatsächlich ist das Auftaktstück „Space Travellers Lullaby“ eine wirbelnde Reminiszenz an die Science-Fiction-Soundtracks der sechziger Jahre mit ihrem naiven Futurismus und dem Versprechen, dass alles möglich ist. „Die Welt ist die, von der wir wollen, dass es sie gibt“, sagt Washington, als er kurz vor Ostern in einem Hamburger Hotel über sein neues Album spricht. Er ist eingeflogen worden wie ein Popstar, sein Gehstock, den er seit einem Unfall auf vereister Straße in Norwegen dabei zu haben pflegt, liegt wie ein Totem neben ihm auf dem Sofa. An den Fingern seiner Hände trägt er klobige, goldene Ringe, und die Kette mit dem Amulett um seinen Hals klimpert.
Wie sehr das Bild, das man sich von der Wirklichkeit macht, mit dieser Wirklichkeit identisch ist, erfuhr Washington in seiner Jugend, die er in Inglewood und South Central verbrachte. „Sirenen und Schüsse jede Nacht“, erinnert sich der Musiker, ebenso daran, „wie sehr wir als Kinder von der Vorstellung besessen waren, als afroamerikanische Jungs aus dieser gefährlichen Gegend nichts anderes als Gangster werden zu können. Ich konnte mir zwar nicht vorstellen, die Verbrechen zu begehen, die dafür nötig gewesen wären, aber das Bild einer Gangsterexistenz stand mir doch klar vor Augen. Ich adaptierte die Sprache des Gangsta-Rap, schaffte mir die Gesten drauf und blickte so böse in die Welt, wie Gang-Mitglieder es tun. Bis eines Tages jemand sagte, du bist kein Gangster.“
Die „gespaltene Persönlichkeit“ des Kamasi Washington
Der Gedanke zerfiel, es änderte sein Leben. Einige seiner Jugendfreunde haben nie von der Idee abgelassen, sie starben früh oder landeten im Knast oder führen das harte Leben in Armut, das Amerika den Schwarzen und Latinos aus seinen Elendsvierteln vorbehält. „Den Unterschied machte nur das Bild, das ich von mir selbst gewonnen hatte“, glaubt Washington und hat seinem Album nun das Motto vorangestellt: „The world that your mind lives in is inside your mind.“
Der Satz mag wie eine etwas billige New-Age-Weisheit klingen. Er ist Washingtons Antwort auf den in ihm tief verwurzelten Antagonismus. „Einerseits bin ich mir der Umstände bewusst, unter denen ich lebe, ich nehme die sozialen und politischen Probleme um mich herum sehr genau wahr. Ich lese viel und interessiere mich für aktuelle Entwicklungen. Andererseits bin ich das alles auch wirklich überhaupt nicht. Mich kümmert fast nichts. Ich kann stundenlang aus dem Fenster starren und mich in meine kleine Welt versenken. In dieser Dualität kann es passieren, dass ich hartnäckig eine Idee verfolge, die mich innerlich bald schon gar nicht mehr berührt.“
Man kann Kamasi Washington angesichts dieser „gespaltenen Persönlichkeit“ durchaus mit Vaterfiguren wie Sun Ra vergleichen, der ebenfalls in ferne Gefilde abzudriften pflegte und seinem „schwarzen Volk“ Weltraumreisen aus der Sklaverei empfahl. Im Gegensatz zu Ras Free-Jazz-Erweckungen, setzt der Sohn eines Kirchenmusikers allerdings auf die Tradition des Soul-Jazz, um seine Ideen in der Gegenwart zu verankern.
Soul-Jazz, das ist das Wort, das toll zu finden sich verbietet, seit es mit den gefälligen Ergüssen Grover Washingtons (nicht verwandt) oder von den Crusaders seine spirituelle Rätselhaftigkeit einbüßte. Gebrauchsmusik für die geschundene Seele, der man nicht zu viel zumuten darf, so hörte sich das Ende der 70er an. Dass Kamasi Washington einen ganz anderen Furor entfesselt, entfernt ihn nicht vom Soul, den er eigentlich im Sinn hat. Als strukturelles Gerüst seiner Pathosformel dient ihm der elegant pulsierende Groove des Hardbop. Doch Washingtons Jazz-Verständnis ist nicht dekonstruktiv. Weder reißt er Dinge auseinander, noch ist er ihnen retrospektiv verfallen. Er geht additiv vor, lässt nur immer mehr einfließen, um zu der „Harmony of Difference“ zu gelangen, nach der er sein letztes Werk, eine Auftragsarbeit des Whitney Museum, benannt hat. Die Harmonie der Diversität ist ein Gegenentwurf zur Paranoia des ländlichen, abgehängten Amerika, das Donald Trump zum Präsidenten gemacht hat und das vor allem Angst hat, das nicht so ist wie es selbst. „In dieser Situation hoffe ich klarmachen zu können“, erklärt Washington, „dass Musik ein ziemliches Durcheinander darstellt. Dass sie sich aus Unterschieden zusammensetzt, aus verschiedenen Instrumenten, Harmonien, Traditionen, um daraus Schönheit zu erzeugen.“
Kamasi Washington kann sehr ausführlich werden, wenn er auf diesen Aspekt seiner Musik zu sprechen kommt. Er empfindet sie als Echo, das Los Angeles in ihm hinterlässt. „Die Menschen sind aus der ganzen Welt an diesen Ort gekommen, und jede Kultur hat ihre eigene kleine Nische. Man bewegt sich ständig von Nische zu Nische. Es gibt in Los Angeles nichts, das groß genug wäre, um das Ganze zu repräsentieren. Kein Stil könnte sich durchsetzen. Die Szenen grenzen sich nicht mal voneinander ab. Die musikalischen Helden von Los Angeles waren deshalb solche, die alle möglichen Stile verstanden haben. Snoop Doggs Liveband, in der ich eine Zeit lang spielte, setzte sich nur aus Jazzmusikern zusammen. Er wusste genau, warum er es so haben wollte, obwohl es um Hip-Hop ging.“
Rasante Bläserarrangements und fiebrige Afro-Beats
Bis heute bewohnt Washington das Haus in Inglewood, in das sein Vater nach der Scheidung der Ehe gezogen war. Blumentöpfe drängen sich vor der Tür, der Rasen ist geschnitten. Und wie schon damals, in seiner Jugend, ist Washington selbst meistens nicht da. Sondern da draußen. Unablässig tourt er mit seiner Band, die sich aus alten Schulfreunden zusammensetzt. Im ganzen vergangenen Jahr bot sich ihnen nur ein zweiwöchiges Fenster, um neue Stücke einzuspielen. Aus hunderten von Songs, die er unterwegs notiert hatte, wählte er dreißig aus.
„Heaven & Earth“ ist wieder ein furioses Werk mit rasanten Bläserarrangements und einem fiebrigen, sich in die Fläche ausbreitenden Afro-Beat. Wobei sich die Songs paarweise zueinander gesellen. Auf ein Stück, dass seiner Wunschvorstellung entspringt, folgt ein anderes, das wie eine Zustandsbeschreibung angelegt ist. So ist eine CD Washingtons notorisch himmelwärts strebendem, die andere dem an die Erde gebundenen Ehrgeiz gewidmet. Er löst er die Spannung anders als bei „The Epic“, wo er den Antritt einer Erbfolge verkündete, nun nicht mehr in der Fusion auf. Sondern im Kontrast. Auch wenn es einer ist, den vor allem er selbst spürt.
Kamasi Washington spielt am 25. Mai um 20 Uhr im Berliner Astra