Comic-Trilogie zur Weimarer Republik: „Ich bin definitiv fertig mit Berlin“
22 Jahre lang hat der Amerikaner Jason Lutes an seinem Comic-Epos „Berlin“ gearbeitet. Ein Gespräch über die Stadt und die Lehren aus der Vergangenheit.
Jason Lutes, Sie haben mit Ihrer „Berlin“-Trilogie, deren Abschlussband jetzt erscheint, begonnen, ohne vorher jemals in der Stadt gewesen zu sein. Warum?
Zum einen, weil ich ein ganz eigenes Verständnis und Gefühl für die Stadt haben wollte, bevor ich das echte Berlin sehe, zum anderen aber auch, weil ich es mir als Comiczeichner einfach nicht leisten konnte, mal eben von Seattle nach Berlin zu reisen. Berlin habe ich erst besucht, als die ersten 200 Seiten meiner Geschichte schon gezeichnet waren.
Wie kamen Sie darauf, über das Berlin der Weimarer Republik einen Comic zu zeichnen?
1996 hatte ich mit „Narren“ gerade meinen ersten Comic veröffentlicht. Ich hatte das Gefühl, herausgefunden zu haben, wie Comics als erzählendes Medium funktionieren. Ich dachte, jetzt erzählen zu können, was immer ich wollte. Mit diesem Gedanken im Kopf stieß ich auf eine Anzeige für den Fotoband „Das Berlin des Bertolt Brecht“. Ich habe ihn mir gekauft und sofort gewusst, dass mein nächster Comic in dieser Zeit und an diesem Ort spielen würde. Im Nachhinein würde ich sagen, dass ich mir dieses Projekt ausgesucht habe, um mich selbst mit der Frage auseinanderzusetzen, welche Umstände zum Zweiten Weltkrieg und zum Holocaust geführt haben.
Was stand am Anfang Ihrer Arbeit?
Ich kann mich kaum mehr daran erinnern, aber ich meine, zu Beginn hatte ich eine Luftaufnahme vom Potsdamer Platz, auf der man die erste Ampel Europas sah. Außerdem Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“, der ein schillerndes Porträt der Stadt zeichnet. Und natürlich Wim Wenders’ Film „Der Himmel über Berlin“, der von der Last der Geschichte in einer Art und Weise erzählt, wie sie mir vorher noch nie begegnet war.
Wie wurde aus der Idee, einen Comic über Weimar-Berlin zu machen, ein so komplexes wie vielstimmiges Porträt dieser Stadt?
Ich wollte so tief wie möglich in das Berlin der Weimarer Republik eintauchen und habe erst einmal zwei Jahre lang nur recherchiert. Die Grundstruktur der 22 Hefte, die in drei Sammelbänden zusammengefasst sind, wird durch historische Ereignisse wie die Mai-Demonstrationen 1929 oder die Wahlen 1930 vorgegeben. Was mit den Figuren passiert, während sie diese Zeit durchleben, ist improvisiert. Dieses Vorgehen ermöglichte es, die Geschichte lebendig und interessant zu halten. Ich wusste zugleich nie, was als Nächstes passiert. So blieb ich immer bei der Sache, denn natürlich wollte auch ich wissen, wie es weitergeht.
Sie wussten nicht, wie es weitergeht?
Alles, was mit den Figuren passiert, ist beim Zeichnen entstanden, und zwar immer dann, wenn sie Entscheidungen treffen mussten oder sich begegneten. Ich versetze mich in meine Charaktere hinein, um eine Idee davon zu bekommen, wie sie sich in den Situationen, in denen sie sich befinden, wohl verhalten würden. All ihre Entscheidungen entstehen aus meinem Verständnis für die Situation, in der sie sich befinden.
Wie haben Sie die Hauptfiguren ausgewählt?
Die Handlung wird von vielen Charakteren getragen, von denen der ein oder andere auch wieder verschwindet. Ich wollte Menschen aus allen Lebensbereichen haben und verstehen, warum sie bestimmte Entscheidungen treffen. Warum sie der NSDAP beitraten oder Kommunist wurden. Warum sie wählten zu reden, zu kämpfen oder davonzulaufen. Ich habe diese Geschichte aus der Perspektive betrachtet, dass schlechte Entscheidungen zu unermesslichen Verwüstungen führen können. Denn ich wollte den Kontext für diese Entscheidungen verstehen, um den Ursprung und die Symptome besser zu erkennen.
Nur mit Blick auf die Vergangenheit?
Nein, auch um die gegenwärtigen Symptome einordnen zu können. Ich wusste, dass die nationalistische weiße Vorherrschaft seit der Ankunft der ersten Europäer in Nordamerika präsent war. Aber ich hätte nie gedacht, dass sie auf solch offensichtliche Weise wieder auftauchen würde, wie es jetzt der Fall ist.
Ein großer Teil der Geschichte ist der Wochenzeitung „Die Weltbühne“ gewidmet. An einer Stelle erklärt Herausgeber Carl von Ossietzky, dass die Ziele der „Weltbühne“ eher politischer als journalistischer Natur sind. Wenn man das auf den US-Journalismus dieser Tage überträgt, könnte man darin auch eine Kritik hören.
Jede journalistische Äußerung hat eine politische Haltung, aber in Zeiten alternativer Fakten brauchen wir mehr denn je eine auf Tatsachen beruhende Berichterstattung. Eines der größeren Probleme des Journalismus scheint mir, dass man meint, man müsste jeder Position gleich viel Raum geben. In den USA erleben wir derzeit, dass eine Gleichwertigkeit zwischen profaschistischen und antifaschistischen Standpunkten hergestellt wird. Natürlich bin ich für eine freie und objektive Presse, aber ich habe ein Problem damit, wenn eine faschistische Perspektive der Position jener gleichgestellt wird, für die der Faschismus eine existenzielle Bedrohung darstellt. Doch genau das passiert gerade unter Donald Trump.
Fällt Ihnen Zeichnen oder Texten leichter?
Nichts von beidem. Gemeinsam ergeben sie Comics, und Comic als Medium ist mehr als die Summe beider Teile. Aber technisch betrachtet fällt mir der zeichnerische Teil schwerer als der Textteil.
Würden Sie sich nach den Jahren der intensiven Auseinandersetzung mit Weimar- Berlin als Teilzeit-Historiker bezeichnen?
Auf keinen Fall. An allererster Stelle bin ich Künstler. Jede Information, die ich gesammelt habe, wird von mir interpretiert. Ich bin ebenso wenig Historiker, wie ein Tramper Kartograf ist. Ich bin eher ein Kenner der menschlichen Natur geworden.
Welche Figur hat Sie am meisten berührt?
Ich habe mich sehr intensiv mit Silvia auseinandergesetzt, der ältesten Tochter der Arbeiterfamilie Braun. Ihre Erlebnisse wurden, ohne dass ich das erwartet habe, sehr wichtig für mich. Meine Sympathien für sie wurden noch stärker, als meine Frau und ich unser erstes Kind bekamen. Gewissermaßen wurde die Darstellung von Silvia zu einem Gebet für meine eigene Tochter. Beide sind mit einer schrecklichen Zukunft konfrontiert, die die Generation vor ihnen geschaffen hat. Ich hoffe, meine Tochter wird auf ihre Art mit ihrer Zukunft umgehen können.
Wenn Sie gewusst hätten, dass Sie 22 Jahre brauchen, um alle offenen Enden dieser vielstimmigen Comicerzählung zusammenzuführen, hätten Sie jemals damit angefangen?
Das ist schwer zu beantworten. Als ich mich für dieses Projekt entschied, habe ich geschätzt, dass ich ungefähr zwölf Jahre brauchen werde, um den Comic abzuschließen. Mein Plan war, fertig zu werden, bevor ich vierzig Jahre alt werde. Dieses Ziel habe ich um zehn Jahre verfehlt. Es gab Zeiten, in denen es ein echter Kampf war, weiterzumachen, und es gab Phasen, da war ich nicht in der Lage, auch nur einen Strich zu machen. Aber ich hätte mir nicht in die Augen sehen können, wenn ich aufgegeben hätte. Mit all dem Wissen, das ich jetzt habe, hätte ich mich wohl dennoch in dieses Projekt gestürzt.
Ihre Trilogie schließt mit vier Doppelseiten, die das vom Krieg zerstörte, das geteilte, wiedervereinigte und schließlich das heutige Berlin zeigen. Ist das Ihr endgültiger Abschied von der Stadt?
Ich bin definitiv fertig mit Berlin. Ich liebe sowohl das Berlin der Vergangenheit als auch das der Gegenwart, aber meine Zeit in der Stadt ist vorbei. Ich habe noch hundert andere Geschichten, die ich erzählen möchte, und ich freue mich darauf, an ihnen zu arbeiten.
Jason Lutes: Berlin, drei Bände, Carlsen, aus dem Amerikanischen von Heinrich Anders, Textbearbeitung Michael Groenewald, Berlinerisch Lutz Göllner, Lettering Nico Hübsch, 176/208/216 Seiten, je 14 Euro.
Das Gespräch führte Thomas Hummitzsch.
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