Berlin-Comic: So schöne Köpfe zeichnet keiner mehr
Sein Weimarer-Republik-Epos feiert das Milljöh: mit US-Comiczeichner Jason Lutes im Heinrich-Zille-Museum
„Schauen Sie sich diese Nase an! Diesen Hinterkopf! Und erst der Hals!“ Jason Lutes zieht mit dem Finger die Linien auf dem Papier nach, das an der Museumswand hängt. „Wow, großartig, so exakt gelingen mir Kopfformen nicht.“
Lutes – Stoppelbart, Brille, brauner Haarschopf – steht im Heinrich-Zille-Museum im Nikolaiviertel und fixiert die Zeichnungen hinter den Glasrahmen. „Fantastisch, wie er menschliche Beziehungen in wenigen Strichen festgehalten hat.“ So wie Zille vor hundert Jahren durch Berliner Straßen und Destillen zog, um mit dem Bleistift Material für seine prallen Bilderwelten zu sammeln, so zieht auch Lutes manchmal durch die Cafés seiner Heimatstadt Seattle im Nordwesten der USA. Menschen an Tischen sind eine anatomische und künstlerische Herausforderung, sagt Lutes und zeigt auf Skizzen, in denen Zille Männer an Biertischen festgehalten hat.
8000 Kilometer liegen zwischen Lutes’ Heimat und dem, was von Zilles Milljöh geblieben ist. Trotzdem gibt es erstaunliche Verbindungen zwischen dem 1967 geborenen Amerikaner und dem 1929 gestorbenen Berliner. Das wird schon im Eingang des Zille-Museums deutlich, das Lutes diese Woche anlässlich eines Berlin-Besuchs erstmals betreten hat. Als Erstes fällt sein Blick auf Schwarz-Weiß-Fotos an der Wand, die Zille als Vorlage für seine Zeichnungen aufgenommen hat. „Dieses Bild habe ich in einem Fotobuch gefunden und für meine Zeichnungen benutzt“, ruft Lutes. Die Aufnahme zeigt die Straße Am Krögel in Mitte. Der Putz der einst ansehnlichen Bürgerhäuser ist abgeblättert, ein Torbogen wirft Schatten, trotzdem wirkt die Straßenszene kunstvoll, wie der Eingang zu einem Schloss. So hat auch Lutes Berlin in seinen Comics festgehalten: Eine schöne, doch mitgenommene Stadt, malerisch, schillernd, bedrohlich (Leseprobe hier).
Zilles Fotografien sind Lutes seit langem vertraut, er benutzte sie als Vorlage für historische Ampeln und Werbeschilder, Kleidungsstücke oder Hinterhöfe. Die Originale hat er jetzt zum ersten Mal gesehen. Seit zwölf Jahren arbeitet Lutes an seinem Berlin-Epos, veröffentlicht alle paar Monate neue Kapitel als Comic-Heft. In Deutschland stellte er nun den zweiten ins Deutsche übersetzte Band vor. Mit „Berlin – Bleierne Stadt“ ist dem Autor und Zeichner ein grafisches wie erzählerisches Meisterwerk gelungen, das die hohen Erwartungen des vor vier Jahren erschienenen ersten Albums noch übertrifft. Wie er die sozialen und politischen Spannungen der Jahre 1928 bis 1930 aus der Sicht sorgfältig ausgesuchter Akteure reflektiert, wie er realistische, klare Bilder mit sensiblen Texten verbindet, wie er die Atemlosigkeit jener Jahre in ruhigen und doch dynamisch wirkenden Bildfolgen einfängt – das ist große Kunst.
Wieso gerade ein Amerikaner, der zu Beginn dieser Arbeit bis auf entfernte deutsche Vorfahren keine persönliche Beziehung zu Berlin hatte, ein bis zum Abschluss in voraussichtlich vier Jahren auf 600 Seiten angelegtes Gesellschaftspanorama der Weimarer Republik schafft? „Eine spontane Entscheidung“, sagt Lutes. Anfang der neunziger Jahre stieß er in einer Zeitung auf einen Text über das Berlin der Zwanziger. Ihn packte die Neugier, auch weil er das Gefühl hatte, das Berlin jener Ära könnte ein Schlüssel zum Verständnis des 20. Jahrhunderts sein.
„Schauen Sie nur, diese Widersprüche!“, sagt Lutes und zeigt auf Zilles Bilder von Proletarierkindern, die in Hinterhöfen Fußball spielen, von bettelndenWeltkriegskrüppeln, von Huren, Reisigsammlerinnen, Trinkern, Aktmodellen. „Wo sonst findet man so viele interessante Themen und Figuren in einer Epoche?“ Lutes erfand Helden, die fiktiv, aber exemplarisch sind. Kurt Severing, Journalist bei der „Weltbühne“, steht für den kritischen linken Zeitgeist. Die Kunststudentin Marthe Müller – von einem Jugendfoto Käthe Kollwitz’ inspiriert – dient als Zugang zu Berliner Künstlerkreisen und Einstieg ins exzessive Nachtleben der späten Zwanziger. Es gibt eine Arbeiterfamilie, die mit dem Kommunismus sympathisiert, aber auch Familien, die sich den Nationalsozialisten anschließen. Daneben tauchen reale historische Personen auf. Joseph Goebbels und Ernst Thälmann halten Brandreden, Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky laufen durchs Bild.
Ein Element von Zilles Kunst geht Lutes allerdings völlig ab: der Witz. Das liegt auch an der historisch entgegengesetzten Perspektive. Anders als Zille weiß Lutes sehr genau, wohin Berlin und Deutschland steuerten. „Aber das war damals, vor 1933, alles noch viel fließender, als wir es heute sehen.“ Beim Schreiben und Zeichnen versucht er, sein Wissen über die NS-Zeit und den Zweiten Weltkrieg außen vor zu lassen, um die exakte, aus der damaligen Gegenwart heraus nachempfundene Beschreibung nicht zu verwässern. „Deswegen habe ich in meinen Bildern auch das Hakenkreuz weggelassen. Ich will den Lesern Raum lassen, sich in diese Zeit hineinzufühlen, ohne sie immer vom Ende her zu sehen.“
Jason Lutes: „Berlin – Steinerne Stadt“ (2004), 216 S., und „Berlin – Bleierne Stadt“ (2008), 208 S., Carlsen-Verlag, je 14 €.
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