Neue Berlin-Comics: Eine Stadt für alle Fälle
Große Leinwand der Gefühle: Berlin ist als Comic-Kulisse populärer denn je.
Der Rächer schlägt am Alexanderplatz zu. Als zwei Skinheads eine Frau überfallen, stürzt sich der Mann mit der Maske vom Dach des Park-Inn-Hotels auf die beiden Angreifer und setzt sie brutal außer Gefecht. Die Frau ist gerettet, der Held verschwindet in den dunklen Straßenschluchten Berlins.
So beginnt die neue Comicserie „Der Engel“, die der Berliner Zeichner mit dem Künstlernamen Tomppa nach US-amerikanischem Vorbild entworfen hat. Die düstere Heldensaga, in der ein Einzelkämpfer für das Gute zwischen Marzahn und Tiergarten seine Fäuste schwingt, illustriert einen seit Jahren wachsenden Trend: Berlin wird als Kulisse für gezeichnete Abenteuergeschichten oder Historiendramen immer populärer.
Alleine in diesem Jahr kamen zu der bereits Dutzende Bände umfassenden Liste der in Berlin spielenden Comics eine Handvoll weiterer Bücher hinzu, in denen nicht Manhattan oder Paris, sondern Mitte und der Pariser Platz die Kulisse abgeben.
Recherchen rund um die Friedrichstraße
Eine der schönsten Berlin-Hommagen der vergangenen Jahre kommt von einer Hamburger Zeichnerin:
Isabel Kreitz hat Erich Kästners Roman „Pünktchen und Anton“ (Dressler Verlag) als Comic neu interpretiert – und dafür das Berlin der späten 1920er Jahre mit zartem Strich und kräftigen Farben zu neuem Leben erweckt. Eine ausführlichere Rezension finden Sie unter diesem Link.
Während der Arbeit an dem Buch, das rund um die Weidendammer Brücke und die Friedrichstraße spielt, suchte Kreitz die Schauplätze in Kästners Buch auf, soweit sie noch vorhanden sind, machte Fotos und Skizzen und kombinierte diese mit historischen Aufnahmen aus der Friedrichstraße oder der Tucholskystraße, die einst Artilleriestraße hieß und in der im Buch Antons Wohnung liegt.
Eine Recherche, die die warme, nostalgische, aber auch soziale Missstände nicht aussparende Atmosphäre der Neuinterpretation des Klassikers prägt: „Hintergründe und Schauplätze beschäftigen mich bei der Umsetzung eines Comics mindestens so sehr wie die Charaktere“, sagt Kreitz. An Berlin gefielen ihr im Gegensatz zu ihrer Heimatstadt Hamburg besonders „die vielen Fritz-Lang-Motive“.
„Was es nicht gibt, wird dazu erfunden"
Wieso gerade Berlin und nicht Frankfurt oder Dresden die immer wiederkehrende Kulisse für Comiczeichner ist?
„Die Stadt bietet einfach eine tolle Kulisse“, sagt Superheldenzeichner Tomppa. Die Spuren der bewegten Geschichte, die alten und neuen Bauten, der ständige Wandel der vergangenen Jahrzehnte – mit ein bisschen Fantasie seien die Möglichkeiten Berlins als Kulisse „schier unerschöpflich“. Umso mehr, wenn man seine Handlung in eine nahe Zukunft legt, wie Tomppa, der sein Heldenepos im Jahr 2029 spielen lässt. „Was es nicht gibt, wird einfach dazu erfunden – es handelt sich ja schließlich um einen Comic.“
Das sagen sich zunehmend nicht nur Berliner Comicstars wie Fil, der die Abenteuer seiner schweinsnasigen Urberliner Didi & Stulle naturgemäß nur hier spielen lassen kann oder Flix, dessen regelmäßig im Tagesspiegel abgedruckte Erinnerungen an Mauer und Wiedervereinigung ebenfalls größtenteils in Berlin spielen.
Der originellste und fantasievollste Berlin-Comic seit langem kommt von Katharina Greve. In der schwarz-weißen Erzählung „Ein Mann geht an die Decke“ (Verlag Die Biblyothek), die kommende Woche erscheint, erzählt die studierte Architektin eine zauberhaft verwirrende Liebesgeschichte, die im Inneren des Fernsehturms spielt – der von einer Gruppe Menschen bewohnt wird, die die die Schwerkraft für sich abgeschafft haben, um den horizontalen Alltag zwischen Boden und Turmspitze zu erleichtern.
Impressionen aus der Künstler- und Besetzerszene
Mehrere Auftritte hat Berlin in dem grafischen Epos „Jahrhundert einer Ratte“ (Minedition), in dem der Künstler Marcus Herrenberger die Geschichte des 20. Jahrhunderts aus der Perspektive eines kleinen Nagers erzählt.
Berlin nimmt da vor allem in der Nachkriegszeit eine zentrale Rolle ein, als Symbol für die Folgen von Diktatur und Krieg. Auch die rebellische, kreative und experimentierfreudige Stimmung der West-Berliner Künstler- und Hausbesetzer-Szene vor dem Mauerfall hat Herrenberger, der lange in Berlin lebte und heute Illustrationsprofessor in Münster ist, in detailverliebten, stimmungsvollen Aquarell-Bildfolgen eingefangen.
Ausländische Comiczeichner zieht es ebenfalls zunehmend an die Spree, und sei es nur für einen Kurzbesuch zum Skizzieren und Fotos machen. Das gilt nicht nur für hier mit den Jahren etablierte Berlin-Fans wie den US-Amerikaner Jason Lutes, der zu Jahresbeginn den zweiten Teil seines Anfang der 1930er Jahre spielenden Comicepos „Berlin“ in der Stadt seiner Träume vorstellte.
Auch der französische Comic-Bestsellerautor Pierre Christin hat kürzlich bereits zum zweiten Mal eine fiktive Handlung in Berlin angesiedelt, das von Annie Goetzinger gezeichnete Abenteuer der Agentin Édith Hardy mit dem Titel „Berlin, zone francaise“ (Dargaud, bislang nur auf Französisch). Der Spionagethriller spielt Ende der 1950er zwischen Tempelhof und dem einst französisch besetzten Nordwesten der Stadt, ist aber leider bislang noch nicht auf Deutsch erschienen.
„Berlin als Schlüssel zum 20. Jahrhundert“
Das gilt auch für die imposante Historientrilogie des belgischen Comicautors und -zeichners Marvano, die den Titel „Berlin“ (Dargaud, ebenfalls noch nicht ins Deutsche übersetzt) trägt und in der die Stadt als Brennpunkt und als Metapher für drei zentrale Epochen der mitteleuropäischen Geschichte genutzt wird: 1943, 1948 und 1961. Kürzlich erschien der dritte Band. In den drei Bänden werden die locker miteinander verbundenen Geschichten mehrerer Ausländer erzählt, deren Schicksal ein ums andere Mal mit Berlin und seinen markanten historischen Wendepunkten verbunden ist: Ein britischer Bomberpilot, der Angriffe auf die Stadt fliegt, eine US-Soldat, der wie der "Candy Bomber" Gail Halvorsen die Herzen der deutschen Kinder im Nachkriegsberlin mit Schokolade gewinnt und ein Franzose, der im Jahr des Mauerbaus eine unerwartete persönliche Beziehung zu dieser geteilten Stadt entdeckt.
Und das sind nur einige der Charaktere in diesem im frankobelgischen, klaren Stil gezeichneten Epos, in dem sich individuelle Abenteuer und gezeichnete Geschichtslektionen zu einer faszinierenden, wenngleich manchmal etwas zäh zu lesenden Einheit verbinden.
Spät, aber nicht zu spät entdecken auch die amerikanischsten aller Comicfiguren zunehmend Berlin als Schauplatz: In der kürzlich auch auf Deutsch erschienenen US-Superhelden-Serie „Die Zwölf“ aus dem Marvel-Verlag kämpfen maskierte Figuren wie Captain America vor der Kulisse des Brandenburger Tors gegen die Nationalsozialisten. 60 Jahre später entdecken dann Bauarbeiter bei Ausgrabungen nahe der Museumsinsel ein fantastisches Geheimnis, dessen Enthüllung der Auftakt zu einer ironischen Hommage an die Superhelden früherer Jahrzehnte ist.
„Berlin erscheint mir wie ein Schlüssel zum Verständnis des 20. Jahrhunderts“ hat der im mittleren Westen der USA lebende Zeichner Jason Lutes einmal gesagt, als er im Tagesspiegel-Interview gefragt wurde, wieso er bald ein Jahrzehnt seines Lebens dieser fernen Stadt im fernen Deutschland gewidmet hat. Wo sonst finde man so viele interessante Themen und Figuren in einer Epoche wie im Berlin der letzten 100 Jahre?
Das dürften sich in diesen Tagen auch vier namhafte israelische Comiczeichner denken: Sie streifen im Rahmen eines Austauschprojektes zusammen mit drei Berliner Kollegen durch die Stadt, um einen gezeichneten Comicführer über Berlin zu erarbeiten. Mehr über dieses Projekt hier.
(In kürzerer Form erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 8.10. 2009)
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