zum Hauptinhalt
Café mit dunkler Geschichte. Zum Glück sind die Zeiten, als hier ein Henker seine Pflicht tun musste, lange vorbei. Das Lokal in Gent ist nicht nur bei Touristen beliebt.
© Hella Kaiser

Belgien: Erste Reihe in Antwerpen

Flandern ist flach und von Kanälen durchzogen. Wie geschaffen für eine Rad- und Schiffstour, die zu schönsten Städten führt.

Runter vom Rad, rauf auf die Stufen. 538 sollen es sein, hinauf zum Turm der St.-Rombouts-Kathedrale in Mechelen. Kein Problem, weil unterwegs so viel zu besichtigen ist. An tonnenschweren Glocken führen die Holztreppen vorbei, und wann hat man je die mächtigen Pfeifen einer Orgel von oben gesehen? Auf der gläsernen Aussichtsplattform angelangt, liegt uns die Stadt kreisrund zu Füßen. 300 Gebäude, von der Unesco zum Weltkulturerbe geadelt, säumen Plätze, Straßen und Gassen. Irgendwo in der Ferne, ganz im Norden, sehen wir Antwerpen.

Weiter westlich erahnen wir die Nordseeküste. Da waren wir vor fünf Tagen. Im Süden ist Brüssel. Dorthin kommen wir noch. Monika aus Köln guckt fasziniert übers Land und sagt: „Unglaublich, all das haben wir uns erstrampelt.“ Überaus bequem dazu, denn unser schwimmendes Hotel, die „Quo Vadis“, hatten wir sozusagen im Schlepptau.

Flandern ist flach und von Kanälen durchzogen. Wie geschaffen für eine Rad- und Schiffsreise. In Brügge hatte die Tour begonnen. Die Stadt ist seit langem filmreif und wirklich wunderschön. Aber sie ist auch voller Touristen. Man muss ein bisschen aufpassen, nicht unter die Räder zu kommen. Es wimmelt nur so von Pferdekutschen. In rasantem Tempo überqueren sie die Bilderbuchplätze und biegen unversehens in kopfsteingepflasterte Gassen ein.

Da setzt man sich doch lieber auf eine dieser netten Caféterrassen und bewundert die schmucken Kaufmannshäuser ringsherum. Am Nebentisch sagt eine Amerikanerin zu ihrem Mann: „Brüssel ist wie Rom, es gibt nicht ein einziges McDonald’s.“ Aber ein einfaches italienisches Lokal, in dem eine Pizza Margherita mit 14,50 Euro auf der Karte steht. Mag Brügge seine Besucher schröpfen wie es will. Uns interessiert das nicht. Das erste Dinner der Reise gibt’s ja schon auf der „Quo Vadis“.

Urgemütlich ist das Schiff von Rendert Jan, dem holländischen Kapitän. Der Mann hatte vor einigen Jahren keine Lust mehr, Zahnarzt zu sein, kaufte sich ein Schiff und schippert seither zahlende Gäste durch Flandern und Holland. Zwölf Kabinen gibt es an Bord. „Geräumiger als auf anderen Flussschiffen, auf denen wir schon waren“, konstatiert das Ehepaar aus Bad Homburg zufrieden. Überdies ist man ja nur zum Schlafen unter Deck. Sonst nimmt man Platz im Salon, auf den mit hellem Leder bezogenen, bequemen Sesseln oder genießt einen lauen Spätnachmittag auf dem Sonnendeck. Rendert Jans Frau Ina – das Schiff funktioniert im Familienbetrieb – hat es mit Töpfen voll blühender Pflanzen dekoriert.

Nach dem ersten Menü an Bord erklärt Reiseleiterin Angelika Hett die Sache mit den Knotenpunkten, die jede Kreuzung markieren. Wie ein Spinnennetz liegt dieses intelligente Radwegesystem über Flandern. Um ein Ziel zu erreichen, braucht man sich nur die Knotenpunkte zu notieren und sie Nummer für Nummer ansteuern. Auch ohne Karte ist es dann kaum möglich, sich zu verfahren.

Der Ort ist einfach gruselig

Einfach mal geradeaus fahren – am Kanal entlang. Flandern ist wie geschaffen für eine Radreise.
Einfach mal geradeaus fahren – am Kanal entlang. Flandern ist wie geschaffen für eine Radreise.
© Hella Kaiser

Anderntags achtet natürlich keiner auf Zahlen an Weggabelungen. Alle strampeln einfach nur Angelika hinterher. Spannend ist doch, was links und rechts am Wegesrand zu sehen ist. Nur am ersten Tag will das nicht so recht gelingen. Ständig müssen tiefe Pfützen umkurvt werden. Es gießt in Strömen. Wie hieß es noch in den Reiseunterlagen? „Empfohlen: guter Regenschutz.“ Zwei Mittvierziger aus der Schweiz haben das nicht ernst genommen. Ihre Windjacken sind zwar sehr schick, aber nicht wasserdicht. Einer unter seinem unförmigen, doch zweckmäßigen Poncho grinst.

Am Benediktinerkloster bei Monnikenwerve hat der Himmel ein Einsehen. Rasten und Kunst betrachten. Lustige Gipsfiguren sitzen auf einem Metallbalken, ulkige Männerköpfe thronen auf einer Backsteinmauer. „Schluss mit dem Fotografieren“, ruft Angelika die Gruppe zusammen, „wir müssen weiter.“ Bei vielen steckt Badezeug in der Packtasche. Es hieß, wer will, könnte nachmittags in die Nordsee tauchen. Aber kurz vorm Seebad Blankenberge fängt’s schon wieder an zu nieseln.

Es ist kühl, längst haben sich die meisten dicke Fleecejacken über die T-Shirts gezogen. Promenieren an der Nordsee wäre eine nette Alternative. Macht hier aber keinen Spaß. Der Ort ist einfach gruselig. Uniforme Hochhäuser säumen die Sandmeile. Kein einziger Blumenkasten hängt an irgendeinem Balkon. An einer Stelle klemmt ein schmaler, niedriger Altbau mit geschwungenen Giebelchen zwischen zwei Betonriesen. Ob der Gast nicht so traurig wird in Blankenberge, wenn die Sonne scheint?

Nach 48 gefahrenen Kilometern schmeckt Alfs Essen an Bord besonders gut. Der Holländer hat sich das Kochen selbst beigebracht und erzählt, dass er schon als Kind ständig „in Großmutters Küche war“. Ihre Rezepte sind Gold wert. Und dass man immer einen Nachschlag in petto haben sollte, hat sie dem Enkel wohl auch beigebracht. Die Bar ist abends geöffnet, so lange irgendwer Durst hat. Jeder schreibt einfach auf, was er getrunken hat, abgerechnet wird am Schluss.

Während wir am nächsten Tag frühstücken, fährt die „Quo Vadis“ bis Moerbrugge. Von da ab strampeln wir entlang dem Gent-Oostende-Kanal bis nach Gent. „Aufpassen, hier wird’s dicht“, warnt Angelika und fährt munter voraus durch die Fußgängerzone. Kein einziger Passant murrt, niemand schimpft. Viele Menschen sind hier auf zwei Rädern unterwegs. Gent ist eine Studentenstadt und viel lebendiger als Brügge, wo wir nach neun Uhr abends keine offene Kneipe mehr gefunden hatten.

Wenn die Tagestouristen verschwunden sind, geht Brügge schlafen. Gent aber ist sogar nachts noch wach. „Alles ist wunderschön angestrahlt, das müsst ihr sehen“, sagt der Kapitän. Sein Schiff liegt fest vertäut am Stropkai, und von dort sind es nur drei Kilometer bis ins alte Zentrum. Also kommt er zum nächtlichen Ausflug einfach mit. Nicht großflächig, sondern eher punktuell sind Fassaden angestrahlt, Brücken und Plätze goldgelb in Szene gesetzt. Sind wir noch im 21. Jahrhundert? Aber nicht träumen jetzt, überall lauern tückische Straßenbahnschienen.

Achtung, Velo!

Los geht’s. Heute dürfen die Radler Antwerpen bewundern.
Los geht’s. Heute dürfen die Radler Antwerpen bewundern.
© Hella Kaiser

Anderntags wird’s vor allem grün. Wir fahren im Plaudertempo die Schelde entlang. Immer wieder aber ertönt vom Schlussmann – jeden Tag übernimmt ein anderer die Position – der Warnruf: „Achtung, Velo!“ So hat es Angelika bestimmt, und so ist es gut. Denn manchmal fahren zwei, drei aus der Gruppe nebeneinander und müssen schnell Platz machen für einen Rennradler. Abertausende von diesen Eddy-Merckx-Typen sind unterwegs, Klingeln haben sie nicht und keine Minute Zeit.

Nicht einmal, um leer getrunkene Wasserflaschen in Papierkörben zu entsorgen. Deshalb hat Belgien die „blikvanger“ erfunden. Das sind am Wegesrand aufgestellte Netze, in die Radler ihren Abfall schwungvoll während des Fahrens entsorgen. Freundliches Fahrradland Belgien. Wann immer wir eine Bundesstraße überqueren müssen, stoppen die Autos, um uns rüberzulassen. Aber sofort. Nicht ein einziges Mal mussten wir warten. „Wie kommen belgische Radler nur in Deutschland zurecht?“, fragt Anja aus Hamburg bange.

Manchmal unterqueren wir Autobahnbrücken und sind heilfroh, mit all dem Verkehr da oben nichts zu tun zu haben. An der Schelde ist es ganz still. Hier hockt ein Reiher am Fluss, drüben geht ein Schwan mit einer Ente spazieren. Ein paar Kaninchen tollen im Gras. Irgendwann kommt auch unser Schiff vorbei. Rendert Jan hupt und wir winken begeistert. Ganz schön schmuck, unsere „Quo Vadis“. Kurz vor der Fähre Richtung Dendermonde verlieren wir fünf aus der Gruppe. Angelika hätte eben nicht erzählen sollen, dass es im Lokal „Het Veerhuis“ „beste Pfannkuchen“ geben soll. Egal, bis nach Dendermonde werden die Nachzügler mithilfe der Knotenpunkte schon allein finden.

Die Übrigen haben dadurch mehr Zeit im dortigen Beginenhof, der auf der Weltkulturerbeliste steht. Beginen waren Witwen oder unverheiratete Frauen, die sich, ohne ein Klostergelübde abzulegen, für ein unabhängiges, aber solidarisches Leben im Dienste Gottes entschieden hatten. Weiß gekalkte Häuser umstehen einen beeindruckend großen, begrünten Hof. Heute wohnen „normale“ Leute darin, aber in einem „Museumshaus“ können Besucher sehen, wie sich die Beginen einst eingerichtet hatten. Noch immer werden die großen Tore des Hofes abends traditionell geschlossen. Wer in diesem Idyll leben darf, ist zu beneiden.

Eine Stadt wie Antwerpen kann man viel besser begreifen, wenn man sich ihr im Radlertempo nähert, durch Industriegebiete und Arbeiterquartiere. Vorbei an schön geschmiedeten Metallzäunen, aus einer Zeit, als es noch eine Industriekultur gab. Nun sind sie rostig – und überflüssig. Kurz vorm Zentrum tragen vier, fünf Meter hohe Eisenstäbe kunstvoll verzierte Dächer. Früher wurden unter ihnen Märkte abgehalten und alle möglichen Waren gehandelt. Heute parken Autos darunter.

„Noch 15 Minuten für einen Kaffee“

Käpt'n Rendert Jan.
Käpt'n Rendert Jan.
© Hella Kaiser

Im Stadthafen wartet unser Schiff. Nur weil die „Quo Vadis“ so klein ist, durfte sie sich hereinmogeln. Nun besetzt sie gleichsam die erste Reihe. Vom Bug aus blicken wir direkt auf das MAS, das tolle Museum aan de Strom. Seit 2011 steht der ungewöhnliche Turmbau aus roten Steinen und viel Glas an dieser Stelle. Drinnen gibt’s auf zehn Etagen zeitgenössische Kunst und spannende Projekte. Zur Panoramaterrasse gelangt man, ohne Eintritt zu bezahlen. Und schaut dann auf die gewaltigen Krananlagen des drittgrößten Hafens Europas.

„Komm’ mit“, ermuntern Monika und Elke nach dem Abendessen, „wir gehen noch in die Altstadt.“ Liegt ja fast vorm Schiff. Wir verlaufen uns in den Rotlichtbezirk, wo spärlich verhüllte „Damen“ in Schaufenstern sitzen. Weder sie noch die potenziellen Kunden stören sich an uns. Dann finden wir den Großen Markt doch noch und stehen vor dem blendenden Prunk des Rathauses, an dem nicht ein einziges goldenes Figürchen noch Platz hätte. Schwindlig kann einem werden vor Spätmittelalter, Renaissance, Barock und Jugendstil. Auch wenn man nach dem „11. Gebot“ (Kneipentipp von Alf) nicht noch drei andere Pubs getestet hätte. Die beiden Schweizer sind noch später in die Kojen gefallen und beim Frühstück reichlich verkatert.

Pech, da können sie Lier nur halb so genießen wie die anderen der Gruppe. So ein nettes Städtchen. Stundenlang möchte man hier durch die kleinen Läden streifen, Porzellan betrachten, Colliers bewundern, Schuhe anprobieren, Dessous und Kleider. Alles individuelle Geschäfte, keins mit den üblichen „Ketten“-Angeboten. Leider ist der Platz in einer Packtasche arg begrenzt. „Noch 15 Minuten für einen Kaffee“, betteln wir. Angelika schüttelt den Kopf. „Ist noch ein gehöriges Stück bis Willebroek.“

Ausgerechnet, wenn keiner mehr Muskelkater hat und jeder Po an den Sattel gewöhnt ist, soll alles zu Ende gehen? Die letzten Kilometer bis Brüssel fahren wir gemütlich auf der „Quo Vadis“, unter beeindruckenden eisernen blauen Hebebrücken hindurch. Rendert Jan entschuldigt sich dafür, dass ausgerechnet unser letzter Liegeplatz so unattraktiv ist. Gegenüber befindet sich eine riesige Schrottverwertung. „Näher an die Stadt dürfen wir nicht“, sagt der Kapitän.

Beim Frühstück am Abschiedstag ist er schon dabei, die Betten frisch zu beziehen. Bald kommen neue Gäste, die „unsere“ Tour in die Gegenrichtung gebucht haben. Einfach dableiben und alles noch mal von vorn? „Komplett ausgebucht“, sagt der Kapitän lächelnd. Gutes spricht sich offenbar schnell rum.

Zur Startseite