Regisseur Oleg Senzow im Hungerstreik: Hoffnung auf Freilassung zur WM
Nicht nur um Regisseur Oleg Senzow besteht große Sorge. In Russland sind viele Künstler und Menschenrechtler inhaftiert.
Aktionen in 78 Städten weltweit. Weit über tausend Künstler und Kulturinstitutionen, die sich für seine Freilassung einsetzen, darunter die Nobelpreisträgerinnen Herta Müller und Swetlana Alexijewitsch. Die Familie, die sich an Putin persönlich wendet. Auf einer Pressekonferenz mit Frankreichs Staatspräsident Macron im Mai werden dringliche Fragen gestellt, zuletzt formulierte EU-Ratspräsident Donald Tusk auf dem G7-Gipfel in Kanada einen kämpferischen Appell. Wer hat nicht inzwischen von Oleg Senzow gehört. Seit 2015 verbüßt der Filmemacher und Maidan-Aktivist eine 20-jährige Lagerhaft, inzwischen in einer Strafkolonie für Schwerkriminelle in Labytnangi, Sibirien. Seit 14. Mai protestiert Senzow dort in der Arktis mit einem Hungerstreik für die Freilassung aller 64 politischen ukrainischen Gefangenen in Russland. Nach 30 Tagen ist sein Zustand bedenklich.
Dennoch schreibt Senzow in einem Brief an die Menschenrechtler Tatjana und Nikolai Schtschur, er sei jetzt „kein Gefangener mehr, sondern ein kranker Gefangener“ und werde im Gefängnisspital gut versorgt. Wie die „FAZ“ berichtet, bedankt sich der 41-Jährige für seine Unterstützung auch seitens des preisgekrönten russischen Regisseurs Andrei Swjaginzew („Loveless“), kritisiert jedoch, dass dieser ihn zum Opfer mache. Er sei kein Verlierer, er wolle nicht geschont werden. Offenbar ist Senzow zu allem entschlossen. „Er steht zu seinem Wort“, sagte seine Cousine Natalia Kaplan dem „Guardian“. Seinem Anwalt Dmitri Dise, dem Senzow Anfang Juni die handschriftliche Hungerstreik-Erklärung übergab, soll er gesagt haben, wenn er während der Fußball-WM sterbe, verschaffe das der Lage der Gefangenen mehr Aufmerksamkeit.
Hilft der öffentliche Druck unmittelbar vor der WM, wo alle Welt auf Russland schaut? Darauf hofft die European Film Academy, die sich seit der Verhaftung als „Krim-Terrorist“ 2014, oder besser: seit der Verschleppung durch den russischen Geheimdienst aus seiner Wohnung in Simferopol auf der Krim nach Moskau für Senzow einsetzt. Bisher war alles vergeblich: dass EFA-Präsidentin Agnieszka Holland, Ken Loach, Mike Leigh, Aki Kaurismäki, Hanna Schygulla, Volker Schlöndorff, Wim Wenders und viele andere offene Briefe schreiben und sich um Senzows Leben sorgen. Dass die Berlinale 2017 die 75-Minuten-Doku „The Trial: The State of Russia vs Oleg Sentsov“ zeigte. Oder dass Amnesty International an die besondere Verantwortung der Behörden gemahnt, wegen des „unfairen Gerichtsverfahrens“. Human Rights Watch spricht von einem politischen Schauprozess.
Senzows "Verbrechen": Er demonstrierte gegen die Krim-Annexion
Senzows „Verbrechen“: Der Regisseur, der 2012 auf dem Filmfest Rotterdam sein Regiedebüt „Gamer“ über einen Spielsüchtigen und dessen „Läuterung“ präsentierte, versorgte ukrainische Soldaten mit Lebensmitteln, demonstrierte auf dem Maidan in Kiew und protestierte gegen die Krim-Annexion. Verurteilt wurde er wegen der Gründung einer terroristischen Vereinigung, auch die Planung von Anschlägen wurde ihm unterstellt. Ein Zeuge zog seine Aussage später zurück, sie sei unter Folter entstanden. Dass Senzows Körper beim Prozess Prellungen aufwies, wurde mit einer angeblichen Vorliebe für SM erklärt.
Folter, Misshandlung, erzwungene Geständnisse? Gemeinsam mit Senzow wurde auch der Ökonom Oleksandr Koltschenko verhaftet und zu zehn Jahren Lager verurteilt. Koltschenko verweigerte man zeitweise lebenswichtige Herzmedikamente; auch er soll in Hungerstreik getreten sein. Der ukrainische Aktivist und Filmemacher Slavik Bihun kam nach eineinhalb Jahren Haft wieder frei, er drehte einen 20-minütigen Kurzfilm über seine Erlebnisse 2014, „Strong in Spirit“. Man sieht seine Augen, hört seine Stimme, dazwischen animierte Szenen. Im Trailer sind es kurze Bildergewitter von Verhören, vom „Spaß“ seiner Peiniger, den Schlägen, der Qual, bis sein Körper ihm nicht mehr gehörte, so Bihun. Er schnitt sich die Pulsadern auf – das rettete ihn.
Ukraine-Aktivisten, Kreml-Kritiker, viele werden zurzeit in Russland drangsaliert: Der international gefragte Regisseur Kirill Serebrennikow steht unter Hausarrest in Moskau, ihm droht eine Anklage unter dem Vorwand der Veruntreuung von Staatsgeldern. Auch hier zeigen sich die Behörden bislang unbeeindruckt von internationalen Protesten. Im Januar wurde der tschetschenische Anwalt Ojub Titijew verhaftet, er leitete in Grosny die namhafte Menschenrechtsorganisation Memorial. Der Ukraine-Aktivist Wolodymyr Baluch befindet sich seit 80 Tagen im Hungerstreik, in einem Lager auf der Krim. Der ukrainische Journalist Roman Suschtschenko wurde vor zehn Tagen zu zwölf Jahren Lagerhaft verurteilt, wegen angeblicher Spionage. Weitere Journalisten sitzen im Gefängnis, NGO-Mitglieder werden schikaniert, Zeugen Jehovas verhaftet, Homosexuelle verfolgt...
EFA-Geschäftsführerin Marion Döring steht wegen Oleg Senzow in ständigem Kontakt mit Human Rights Watch und anderen Organisationen, sie sagt: „Es ist unsere Aufgabe, nicht aufzuhören, über Oleg zu sprechen.“ Auch bittet die Filmakademie um Spenden für die Familie: Die Kinder des alleinerziehenden Vaters leben jetzt bei der Großmutter auf der annektierten Krim. Auch Tusk betonte beim G7-Gipfel vor den Staatschefs: „Unsere Solidarität kann sein Leben retten.“
Putin hat auf all das bisher harsch reagiert, Senzow sei als Terrorist verurteilt, nicht als Filmkünstler. Manche hoffen deshalb eher auf diskrete Hintergrunddiplomatie, auf Gefangenenaustausch oder Begnadigung. Auch bei den Olympischen Winterspielen 2014 in Sotschi waren Häftlinge amnestiert worden, Michail Chodorkowski, zwei Mitglieder von Pussy Riot, Greenpeace-Aktivisten. Aber das war vor der Krim-Annexion.
In einer Video-Aktion auf Youtube fordern immer mehr Künstler, Sportler und Politiker aus der Ukraine und anderen osteuropäischen Staaten die Freilassung von Oleg Senzow. Auch im Ausland und aus dem Exil solidarisieren sich viele. Sie fordern "Fair Play": "Zusammen bringen wir Russland dazu, nach Regeln zu spielen", lautet der Schlusssatz des kurzen Solidaritätstexts . Hier der in Berlin lebende Musiker Yuriy Gurzhy: