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Geschichte im Dienst rechter Rhetorik. Björn Höcke, Spitzenkandidat der AFD-Thüringen, neben dem Werbebanner seiner Partei.
© Nicolas Armer/dpa

„Wir stinken an gegen die da oben“: Historiker sieht AfD als Folge der friedlichen Revolution

Der Blick auf 1989 ist geprägt von der Wiedervereinigung, meint Zeithistoriker Martin Sabrow. Das überdecke die Kontinuität des Rechtspopulismus. Ein Gespräch.

Martin Sabrow, Jahrgang 1954, ist Direktor des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Er lehrt Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin.

Am Montag eröffnete Sabrow im Leibniz-Zentrum die Ring-Vorlesung 1989 – (k)eine Zäsur?, mit 14 Terminen im Wintersemester. Sie wird an wechselnden Orten veranstaltet, mit der HU und der Stiftung Berliner Mauer und in Kooperation mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. In den nächsten Wochen geht es u.a. um die Berliner Theaterlandschaft und die Wende sowie um den Populismus in Ostmitteleuropa. Der Eintritt ist frei, Infos: zzf-potsdam.de.

Herr Sabrow, die Zäsur von 1989 wirkt bis heute nach, darüber ist sich das gesamte politische Spektrum einig. Inwiefern macht sie sich jetzt bei der Thüringen-Wahl bemerkbar?
Unsere Denkrichtung hat sich ein Stück weit umgekehrt: Wir betrachten „1989“ nicht mehr nur als befreiendes Ende des 20. Jahrhunderts, sondern auch als Auftakt des mit neuen Problemen belasteten 21. Jahrhunderts. Hierin gründet mit Blick auf den heutigen Rechtspopulismus die Frage, wie viel Kontinuität im Umbruch steckt.

Es ist erstaunlich, in welch starkem Maße es mit der AfD – einer ursprünglich marktliberalen Rechtspartei aus dem Westen – gelungen ist, sich im Osten in das Erbe von 1989 einzuschreiben. Dass ein solcher politischer Wechselbalg in Thüringen wie in Sachsen und Brandenburg ein Viertel der Wählerschaft zu binden vermag, ohne dass die Differenzen in der rechtsextremen Rhetorik der jeweiligen Spitzenkandidaten merklichen Einfluss auf das Wahlergebnis haben, lässt sich ohne Blick auf ’89 kaum erklären. Es drängt sich die Vermutung auf, dass es den ostdeutschen AfD-Wählern weniger um das rechtspopulistische Programm geht als um die Tradition einer Verweigerungshaltung und des Ressentiments gegen die vom Staat verkörperte Werteordnung.

Was genau begann schon vor 30 Jahren?
Die Denkwelt von Pegida hat bereits 1989 angefangen. Im Umschwung von „Wir sind das Volk“ zu „Wir sind ein Volk“ steckt die Forderung nach Zugehörigkeit ebenso wie nach Ausgrenzung. Dass sich die Zentren des mutigen Aufstandes gegen des SED-Regimes außerhalb Berlins mit den Hochburgen der rechtspopulistischen Erregung heute vielfach überlappen, ist ein soziologischer Befund, der nicht die Freiheitsbewegung von 1989 diskreditiert, aber weitergehende Schlussfolgerungen erlaubt.

Zum Widerstand gegen Herrschaft gehört ein Moment von Widerspenstigkeit, Eigensinn und Staatsferne. 1989 konnte dies im demokratischen Sinne aufgeboten werden. Seit den 90er Jahren richtete sich diese Widerspenstigkeit dann auch und immer mehr gegen den neuen, bundesdeutschen Staat. Im Selbstverständnis vieler ostdeutscher AfD-Wähler - weniger ihrer oft aus dem Westen importierten Funktionäre - mag darin eine gewisse Kontinuität stecken. Im Sinne von: „Wir stinken gegen die von oben“.

Die AfD als Folgewirkung der friedlichen Revolution?

Nicht allein im Osten. 38 Prozent der AfD-Wähler – dreimal so viele wie in der deutschen Wählerschaft insgesamt – halten nach jüngsten Umfragen die DDR für einen eigentlich ganz erträglichen Staat.

Ihnen gilt die Unterscheidung zwischen Demokratie und Diktatur wenig oder nichts. Hier wird die Kontinuität einer sozialen Ichbezogenheit sichtbar, die mit dem Staat nichts anfangen kann – und immer dort, wo es ihm ans Leder geht, mit grimmiger Häme und feixender Freude reagiert. Diese Skepsis gegen „die da oben“ hat ihre Wurzeln nicht allein in der Vereinigungskrise nach 1989, sondern auch im Leben unter diktatorischen Bedingungen davor.

Sprechen wir über den 9. November: War es tatsächlich der Versprecher des DDR-Staatsfunktionärs Günter Schabowski über ein vermeintlich „sofortiges Inkrafttreten“ der neuen Reiseregelung in der Pressekonferenz, der die DDR letztlich zu Fall brachte?
Vermutlich wäre der Gang der Dinge auch ohne diesen Lapsus nicht viel anders gewesen. Die Herrschaftsverhältnisse hatten sich bereits infolge der machtvollen Montagsdemonstrationen in Leipzig vom 9. und 16. Oktober und mit der großen Demonstration vom 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz dramatisch umzukehren begonnen.

Zudem war Staatschef Erich Honecker durch den „Reformflügel“ um Egon Krenz, der keine Gewalt einsetzen wollte, bereits entmachtet. Das SED-Regime konnte sein autoritäres Herrschaftsmonopol nicht mehr wahren. Eine gewisse Verzögerung der Entwicklung wäre zwar denkbar gewesen. Doch die DDR war bereits eine isolierte Insel im sich öffnenden Ostblock, hier hätte sich ein repressives Regime wohl nur noch auf Wochen oder Monate halten können.

Also hat der Vorfall auf der Presskonferenz keine historische Dimension?
Ohne die ungewollte Vordatierung der Reisemöglichkeiten wäre die weitere Entwicklung aus Sicht der Machthaber zunächst wohl kontrollierbarer erfolgt. Eventuell hätte die DDR sich die allmähliche Abtragung der Mauer teurer bezahlen lassen können. Womöglich wäre die Position der DDR in den sich abzeichnenden Annäherungsverhandlungen stärker gewesen.

Aber auch das ist unsicher, denn die Bevölkerung lief nicht nur Sturm gegen das Regime, sondern es lief ihm auch davon, und eine zögernde Haltung der Staats- und Parteiführung hätte diesen Effekt nur verstärkt. Insofern bleibt Schabowskis Versprecher nur ein mächtiger Katalysator, und dies übrigens in Verbindung mit den vorpreschenden Medien und besonders dem damaligen „Tagesthemen“-Moderator Hans Joachim Friedrichs, der von Hamburg aus eine Maueröffnung verkündete, die noch gar nicht Realität war.

Aber: All das war nur möglich, weil die Gärung im Land so stark war. Der SED-Reformflügel um Egon Krenz musste auf Friedlichkeit setzen, um sich nicht völlig zu desavouieren; auf Härte konnte bis zu seiner Ablösung nur Honecker setzen.

Und tat er das?
Zumindest erwog er, am 16. Oktober zur Abschreckung der Demonstrierenden Panzer durch Leipzig fahren zu lassen. Das hat ihm Krenz ausgeredet. Und es bleibt ein historisches Verdienst der Gruppe um Krenz, Herger und Schabowski, dass sie die Machtmittel des SED-Staates nicht einsetzte. Für mich liegt darin das eigentliche Wunder von „1989“ – wer hätte geglaubt, dass ein in seiner Rhetorik so kriegerisch und antagonistisch ausgerichteter Weltentwurf schweigend die Waffen niederlegt?

Also doch eine weltbewegende Zäsur.
Natürlich ist 1989 eine grandiose Zäsur. Aber politische und biografische Zäsuren stimmen selten überein und oftmals sind es mehrere kleine Veränderungen, die erst im erinnernden Rückblick zu einem gravierenden Einschnitt werden. Es stellt sich deshalb schon die Frage, wann die Zäsur eigentlich genau anzusiedeln ist.

Schon am 9. November? Oder erst Anfang 1990, als nach dem Diktatursturz die Wiedervereinigung sich abzuzeichnen begann? Oder sogar erst nach 1990, als sich das eigene Leben umgestaltete und die gewonnene Sicherheit der politischen Ordnung mit der unerwarteten Unsicherheit der persönlichen Lebensbedingungen zusammentraf? Für viele Menschen kam die ihnen entscheidende Zäsur erst mit der Vereinigungskrise.

Die aber nicht erst nach 1990 begann.
Viele DDR-Bürger, die zunächst von der Idee eines antifaschistischen Gegenentwurfs zum Bonner Staat grundsätzlich durchaus einverstanden waren, hatten spätestens nach dem erstickten Prager Frühling 1968 mit dem SED-Staat abgeschlossen. Und schöpften dann in den 80er Jahren allmählich wieder Hoffnung, dass es doch gelingen könnte, die alte Führung loszuwerden und einen verbesserlichen Sozialismus zu entwickeln, einen Dritten Weg zu gehen.

Dass sich dies dann als bloße Utopie erwies, weil die Mehrheit es anders wollte, als die oppositionelle Vorhut dachte, bedeutete für breite Teile der Bürgerrechtsbewegung eine Zäsur in der Zäsur.

Betrifft die Zäsur das gesamte Deutschland?
Zunächst einmal bildete „1989“ eine ostdeutsche Zäsur. Wobei es auch hier regionale Unterschiede zu berücksichtigen gibt. Wir verfolgen am Zentrum für Zeitgeschichte in Potsdam jedoch auch den Denkansatz einer Ko-Transformation. Langfristig hat der Umbruch auch die Bundesrepublik ereilt, in der alte Gewissheiten ebenso in den 90er Jahren zu wanken begannen, was den Glauben an lebenslange Arbeitsplätze oder die Rolle des Staates betraf.

Ist die Vermutung abwegig, dass Ostdeutsche aufgrund ihrer größeren Umbruchserfahrung besser in der Lage sein könnten, sich auf die Herausforderungen einzulassen, die Globalisierung und Digitalisierung mit sich bringen?

Forscht zur Gegenwartsgeschichte mit Schwerpunkt DDR. Martin Sabrow, Leiter des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam.
Forscht zur Gegenwartsgeschichte und Diktaturgeschichte. Martin Sabrow, Leiter des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam.
© Sebastian Gabsch/PNN

Was sagen Sie als Historiker eigentlich dazu, dass sich mit Manuela Schwesig und Bodo Ramelow zwei Regierungschefs ostdeutscher Bundesländer gegen die Bezeichnung „Unrechtsstaat“ für die DDR wehren?
Die Frage, ob die DDR ein Unrechtsstaat war, kann die Geschichtswissenschaft schwerlich entscheiden, weil der Terminus keine wissenschaftlich präzise Kategorie darstellt und in seiner Eindimensionalität noch hinter die Unterscheidung von Normen- und Maßnahmenstaat in Bezug auf den Nationalsozialismus zurückfällt.

Für mich ist er ein Abgrenzungsbegriff; wie der Terminus "antitotalitärer Konsens" bringt er klar zum Ausdruck, was die Bundesrepublik nicht ist und nicht sein darf. Um jedoch die DDR historisch zu erklären, reichen plakative Begriffe wie Totalitarismus und Unrechtsstaat nicht.

Warum?
Weil es sich um einen Staat handelte, der wahrhaftig vom ersten bis zum letzten Tag kein Rechtsstaat war, der aber gleichwohl Unrecht und Willkür nicht als politisches Prinzip verfolgte. Das unterscheidet den kommunistischen Weltentwurf vom nationalsozialistischen, der unverstellt Unterdrückung, Verfolgung und Ausmerzung zu staatlichen Handlungszielen erklärte. Diese kardinale Unterscheidung wird mit der Anwendung des Begriffs Unrechtsstaates auf die DDR verwischt. Der entscheidende Punkt in der wissenschaftlichen Betrachtung ist aber ein anderer.

Und zwar?
Man kann kommunistische Systeme von demokratischen Normen aus nicht hinreichend erklären. Wenn man sich etwa den hochstalinistischen Film „Baumeister des Sozialismus“ von 1953 anschaut, in dem in einer Szene Ulbricht wie eine Furie durchs Land fährt, um einen faschistischen Bauern vom Hof zu jagen, dann stellte das im Sinne des SED-Regimes nicht Unrecht dar, sondern tatkräftige Gerechtigkeit.

Die Maxime einer materiellen Gerechtigkeit, die sich vom formalen Recht nicht aufhalten lässt, leitete den SED-Staat und prägte seine Handlungswelt. In der Praxis gab es laufend Ausnahmen wie in jeder autokratischen Herrschaftsform. Aber diese Ausnahmen waren in der kommunistischen Sinnwelt weniger Repression und Terror, sofern sie nur der Herrschaftssicherung dienten, als vielmehr Verstöße gegen die selbstgeschaffenen Normen richtigen Handelns wie Parteiergebenheit, Geschlossenheit, Zukunftsgewissheit.

Zugespitzt formuliert: Die Legitimation kommunistischer Herrschaft konnte die Offenbarung des Wandlitzer Wohlleben der Machtelite nachhaltiger aushöhlen als die Enthüllung ihrer politischen Verbrechen. Die Fernsehbilder, die Küchengeräte aus Westproduktion und den privaten Intershop der SED-Führung zeigten, sorgten zeitgenössisch für einen größeren Aufschrei als die schrittweise Offenlegung der Menschenrechtsverletzungen an Repressionsorten wie Hoheneck, Bautzen oder der Potsdamer Lindenstraße.

Sie sprechen im Zusammenhang mit 1989 auch von einem Mythos. Ist das nicht irreführend?
Natürlich ist 1989 ein weltgeschichtliches Ereignis von so elementarer Wucht, dass die Frage, ob der Umbruch einen Mythos darstellt, absurd klingt. Aber Mythen sind nicht zwingend Lügen, sondern vor allem mächtige Gemeinschaftsvorstellungen, die zu einer zivilreligiösen Feierkultur führen. Eben dies zeigt sich bei „1989“ von Jubiläum zu Jubiläum immer stärker.

Ein zweites Merkmal des Mythos besteht darin, dass er nicht nur erinnert, sondern auch vergisst und begradigt. Unsere Feierkultur deutet heute die - übrigens gar nicht so ganz friedliche - Revolution von 1989 überwiegend aus der Sicht der Wiedervereinigung. Die Demonstrationen führten die Grenzöffnung herbei und mündeten folgerichtig in der deutschen Einheit, so die gängige Erzählung. Das war aber gerade nicht das leitende Handlungsmotiv der Bürgerbewegung, sondern wurde es erst im Nachhinein.

Dass viele Akteure 1989 auf eine Reform des Sozialismus und auf dessen Demokratisierung, nicht aber Abschaffung hofften, ist heute fast vergessen. Alle Beteiligten täuschten sich über die Folgen ihres Tuns, und nur deswegen konnte aus einer intendierten Verbesserung der Untergang des Staatssozialismus werden. Dass dies kaum noch im Bewusstsein unserer Zeit ist, hebt das mächtige Ereignis von 1989 in den Rang eines mächtigen Mythos.

Jan Kixmüller

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