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Barfüßiger Büßer. Der Schauspieler und Regisseur Ben Becker, 50, als Judas im Berliner Dom.
© Britta Pedersen/dpa

Ben Beckers "Ich, Judas" im Berliner Dom: Himmel hilf!

Rehabilitation eines Renegaten: Wie Ben Becker sich im Berliner Dom den Judas vornimmt.

Der größter Verräter der Weltgeschichte. Die Kaiserloge im Berliner Dom. Erhebend: ein ganz großes Thema und dann dieser imperiale Blick auf das Geschehen – über die ausverkauften Bankreihen durch den abgedunkelten Dom in die Altarapsis. Dort glimmt goldener Zierrat verheißungsvoll im warmen Lüsterlicht. Ein paar Spots setzen Akzente auf ein weißes Marmorkruzifix, den roten Feuerlöscher und das theatralische Minimal-Mobiliar aus Lesepult und einen ans letzte Abendmahl gemahnenden Tisch. Von oben baumelt ein Leuchtstoffring herab. Sieh da, den eigenen Heiligenschein hat Schauspieler und Regisseur Ben Becker sich für seine neue Sakralrezitation „Ich, Judas“ schon bereitet.

Das Intro gehört aber erst mal Johann Sebastian Bach – Komponist des Herrn, immer eine gute Wahl. Domorganist Andreas Sieling zieht tiefe Register und die dunkle „Fantasie in C-Moll“ flutet den Raum. Die Wirkung ist erhaben und erdend zu gleich. Klarheit, Konzentration. Der Tag ist vergangen, der Mensch geht in sich und begegnet – Judas Ischariot, dem ultimativen Verräter, der ewigen Erbsünde, dem Bösen. Das heißt, er würde ihm gern begegnen. Aber von dem, was der im weißen Anzug zur Reinwaschung des Judas auftretende Ben Becker liest, ist nur halliger Murmelmumpf zu hören.

Ohren spitzen hilft nicht, aber der Programmzettel. Es rezitiert einen Auszug aus dem Matthäusevangelium. Die Verse, in denen Jesus mit den Jüngern in Jerusalem beim Abendmahl sitzt und spricht: „Einer unter euch wird mich verraten“. Sie brandmarken Judas seit 2000 Jahren als Verräter, dessen Identität Jesus noch vor dem fatalen Kuss im Garten Gethsemane offen benennt. Die Stelle ist bekannt und damit zu verschmerzen, dass sie in der prächtigen, aber akustisch oftmals schwierigen 1000-Plätze-Kirche nur zu erahnen ist.

Judas ist der wahre, zur Aufopferung bereite Jünger

Fatal wird der Hörbrei jedoch beim zweiten Text – einem Kapitel aus Amos Oz’ religionshistorischem Roman „Judas“, der einen Bogen von den Galiläern zum Nahostkonflikt schlägt. Dieser Judas ist kein Christ, sondern ein Jude. Er erklärt sich in einem inneren Monolog zum wahren, weil zur Aufopferung bereiten liebenden Jünger Jesu, der wacker einen göttlichen Plan erfüllt, wie sich allerdings erst nach einem Platzwechsel in die mit Lautsprecher ausgestattete Nebenloge erhellt. Ben Beckers Bass, mit dem er nach seiner Bibel-Show von 2007 auch schon auf Kircheneinladung Texte von Martin Luther intoniert hat, raunt und tremoliert im Modus Dauerpathos. Die Bürde, sich langsam zum Großrezitator des Herrn auszuwachsen, lastet schwer auf seinen Stimmbändern.

Beckers Idee, Judas nicht als Bösewicht, sondern als intellektuellen Zweifler oder wahren Liebenden darzustellen, ist allerdings kein neues Motiv. Da kommt inzwischen jeder bessere Passionspielleiter drauf und sogar Andrew Lloyd Webber in „Jesus Christ Superstar“. Doch die große theatralische Rehabilitation hat sich der alte Sünder Becker, dessen vom Boulevard liebevoll begleitete Drogenexzesse und Regisseursprügeleien auch schon ein paar Tage zurückliegen, für sich reserviert. Nach einer schrill-dramatischen Orgelimprovisation.

Barfüßig und im wallenden Büßergewand bespielt er jetzt den ganzen Altarraum. Läuft ins Publikum, steht auf dem Tisch, brüllt und heult den vom Gekreuzigten entlehnten Schmerzensschrei „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Sein Paradestück, Walter Jens’ „Die Verteidigungsrede des Judas Ischariot“ deklamiert er auswendig, was eindeutig mehr seine Sache ist. Als langjähriger „Tod“ im Salzburger „Jedermann“ ist Becker große Gesten gewohnt. Subtilität, das steht ihm nicht. Aber die Wut dieses Judas’, der sich als Bester aller Jünger, ja als zweiter Messias wähnt. Ohne sein übermenschliches Menschenopfer kein Kreuzestod, keine Auferstehung, kein Christentum, aber auch kein Judenhass, kein Judenmord. Das ist die argumentative Schleife, in der sich der mit Bach ausorgelnde Abend dreht.

Warum trotzdem keine tiefgründige Rehabilitierung eines ewig Verkannten daraus geworden ist? Weil Ben Becker sich mehr für Affekte als für Inhalte interessiert. Einmal mehr hat er starke Texte hergenommen und daraus für ein säkulares wie christliches Publikum gut konsumierbaren Sakrokitsch destilliert. Beim Rausgehen sagt ein Mann zu seiner Frau: „Dit war janz jroße Schauspielkunst“. Na bitte, klappt. Ben Becker kann sich den nächsten Bibeltext greifen. Die Gläubigen stehen bereit.

Berliner Dom, 22. November (ausverkauft) und 12./13. März 2016, 20 Uhr. Am 5. März 2016 in Hamburg, St. Michaelis

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